Auch 2020 besteht – trotz Corona – noch Hoffnung auf einen Meeresurlaub. Die folgenden Beobachtungen von Gerhard Medicus mögen den meeresbiologischen Forschungsgeist der Leserinnen und Leser wecken! Leider werden nicht alle heuer die Möglichkeit haben, ans Meer zu fahren. Vielleicht dient dieser Beitrag auch als Inspiration, um eigene Beobachtungen als Bericht festzuhalten? Wir danken Gerhard Medicus für die Zusendung!

Naturbeobachtung fasziniert mich seit meiner Kindheit und Jugend und so habe ich diese Leidenschaft auch mit meinen Kindern ausgelebt. Besonders anziehend war die für mich fremde marine Welt. Einige Beobachtungen waren so eindrucksvoll, dass ich mich entschlossen habe, sie zu veröffentlichen – als Anregung für den Sommerurlaub von Leserinnen und Lesern des bioskop. Möglicherweise handelt es sich bei den an erster, dritter und vierter Stelle platzierten Berichten um Erstbeschreibungen. Die dritte und vierte Beobachtung verdanke ich der vorbehaltlosen Neugier meines Sohnes Thomas. Ein Teil der Beobachtungen erfolgten in einem Feldaquarium, das ich für die Kinder auch auf Fernreisen mitgenommen habe. Es ließ sich, in einer Kühlbox geschützt, bequem transportieren. Schnell schwimmende kleine Tiere habe ich mit einem Kescher gefangen (im Mittelmeer z.B. Rochen, Muränen, Schollen, Knurrhahn, Tintenfische usw.) und nach der Beobachtung wieder freigelassen.

1. Alonissos 1993: Tintenmimikry bei einem Cephalopoden

Als Schnorchler im Mittelmeer kann man frei schwimmenden Tintenfischen der Art Sepia officinalis immer wieder relativ gut folgen, bis sie sich im Sand eingraben und dann mit dem Kescher leicht zu fangen sind. Trotzdem verschwinden einige Individuen selbst bei guter Sicht schon vorher auf scheinbar unerklärliche Weise, und zwar stets nach dem Ausstoßen einiger Tintenwolken, auch dann, wenn der Meeresgrund mit seinen Versteckmöglichkeiten immer noch einige Meter weit entfernt ist.

Eine Hypothese dafür, wie die Tintenfische den Verfolger abschütteln, erhielt ich durch eine Aquarienbeobachtung: Ein Tintenfisch, der sich ruhig am Sandboden aufhielt, hat sich durch eine Bewegung von mir plötzlich bedroht gefühlt: während er mit  maximaler Geschwindigkeit gegen die Scheibe angeschwommen ist, hat er drei bis vier Tintenwolken ausgestoßen und sich dann plötzlich, wie auf Knopfdruck, für etwa eine halbe Sekunde selbst schwarz wie Tinte verfärbt, dann aber schlagartig wieder die hellere Umgebungsfärbung angenommen. Diese kurze Dunkelfärbung des Tintenfisches folgte dem drei- bis vierfachen „Tintenstakkato“ so, als handele es sich um eine letzte Tintenwolke.

Wenn man im Meer diesen letzten vermeintlichen Tintenausstoß nicht bewusst fixiert und zwischen echten und unechten Tintenwolken auch nur kurz vergleichend hin- und herschaut, hat man den fliehenden Tintenfisch schon aus den Augen verloren und sieht nur mehr die auffälligen echten Tintenwölkchen. Ich hatte den Eindruck, dass die Tintenfische unmittelbar nach dem Täuschungsmanöver nach Zufallsprinzip die Richtung ändern. Damit hat der Tintenfisch das Wahrnehmungsvermögen seines Verfolgers überlistet. Dieses Fluchtverhalten ist wohl als ein instinktives Programm angeboren, auch wenn die Tiere nicht immer dieses Täuschungsmanöver ausführen.

Anm.: Diese Beobachtung wurde auch in der Zeitschrift DATZ beschrieben: Medicus, G. (1995). Tintenmimikry bei einem Cephalopoden. DATZ, 48(3), 140.

2. Tauwema / Kaileuna / Trobriand Inseln / Papua Neuguinea 1996: Delfinpirsch in der Südsee

Während meiner drei mehrwöchigen Aufenthalte in Tauwema konnte ich als Schnorchler einmal in relativ großer Entfernung Delfine sehen, die ich wegen der Distanz nur auf Grund der Schwimmbewegungen von Haien unterscheiden konnte. Ich ging an die Grenze dessen, was Lunge und Kreislauf hergaben, um mich ihnen anzunähern, was mir aber zunächst nicht gelungen ist. Die Tiere hielten stets Abstand zu mir. Weil sie nicht einfach wieder verschwunden sind, waren auch sie höchst wahrscheinlich auf mich neugierig. Meine Annäherungsversuche als Schnorchler waren erst erfolgreich, als ich die Idee hatte, mit beiden Füßen parallel zu schlagen, wie mit einer Monoflosse. So kam ich bis auf zwei Delfinlängen an die Grazien des Meeres heran. Einzelne von ihnen „begutachteten“ mich einäugig indem sie sich zur Seite drehten. Mein damals achtjähriger Sohn, der das Schauspiel von der Wasseroberfläche aus verfolgt hat, meinte danach, dass sich die Delfine wohl spaßhalber so benommen hätten, wozu sie aber aus ethologischer Sicht mangels Theory of Mind nicht fähig sind.

3. Kreta, Süd-Küste 2001: Tritonshorn-Angriff auf Seestern

Mein Sohn hat beim Schnorcheln den Zusammenhang zwischen “invaliden” roten Seesternen (Echinaster sepositus) und einem Tritonshorn (Charonia tritonis) erkannt und nicht nur das Tritonshorn mitgenommen, sondern auch einen intakten Seestern. Zurück an der Oberfläche ruft er mir am Strand zu: „Aquarium“. Ich komme ihm mit dem Aquarium entgegen, er legt beide Tiere hinein und wir stellten es auf einem Felsen ab. Nach weniger als einer Minute greift das Tritonshorn den Seestern an, der in etwa innerhalb einer halben Minute proximal von dem Biss den Arm abgeschnürt und abgeworfen hat.

4. Azoren 2001: Delfinbeobachtung

 Delfine findet man in den Weiten des Meeres relativ leicht dort, wo sich viele Möwen über der Wasseroberfläche sammeln und sich ins Wasser stürzen, um Fische zu fangen. So weisen die Möwen den Weg zu einem Fischschwarm, der von Delfinen auf engsten Raum unter der Wasseroberfläche zusammengetrieben worden ist. Hat man den Ort mit einem Motorboot erreicht, kann man diese eleganten und faszinierenden Tiere (Stenella coeruleoalba) bequem aus nächster Nähe beobachten. Mein damals 12-jähriger Sohn machte dann auf Grund seiner Unbefangenheit etwas, worauf ich auf Grund meiner Erwachsenen-Vorurteile nicht gekommen wäre: er versuchte, nach einzelnen Fischen im Makrelenschwarm (Trachurus picturatus) zu greifen, was zunächst ihm und dann auch mir wegen der Erschöpfung und Panik der (unverletzten) Tiere tatsächlich gelang. Die Fische werden praktisch ausweglos, gleichzeitig aus Wasser und Luft gejagt. Um der Gefahr zu entkommen fliehen sie ins Zentrum des Schwarms, wodurch der Schwarm zu einer sich verausgabenden, sich ständig selbst neu formenden kompakten Futterkugel für die Beutegreifer wird. Die sättigende Endhandlung ist also für die Delfine (anthropomorph ausgedrückt) ein entspanntes gemütliches Ereignis und auch für die Möwen ein „leichtes Spiel“. Viele Fische trugen von den Schnabelhieben der Möwen Verletzungen davon, möglicherweise auch deshalb, weil einzelne Fische den Möwen zu groß gewesen sind.

5. Hurghada 2006: “Einladung” zur Koprophagie im Roten Meer

Ein Seekuhbulle, den ich beim Abweiden von Seegras stundenlang beobachten konnte, stellte sich plötzlich im ca. 7 m tiefen Wasser 30-40 Grad schräg zwischen Boden und Oberfläche und verharrte in der Position. Nach wenigen Sekunden schießen zwei Schiffshalter (Echeneis naucrates) zum Anus des Bullen, der in dem Moment mit der Defäkation beginnt und so den Schiffshaltern ermöglicht, direkt von dort die voluminösen Faeces hinunterzuwürgen. Nach getanem Geschäft wälzt sich der Bulle am Boden, um die Schiffshalter abzuschütteln. Koprophagie ist weit verbreitet und auch vom Schiffshalter bekannt (Williams et al. 2003); offensichtlich sind die (vor-) verdauten „Speisereste“ nicht nur für Darmparasiten nahrhaft. Meine Kinder und ich konnten in Namibia Warzenschweine beobachten, die Elefantenkot vertilgt haben. Aus ethologischer Sicht bemerkenswert ist die zwischenartliche Sender-Empfänger-Abstimmung: Was aber ist der Anpassungswert für die Seekuh, die das Putzaufforderungs-Signal (30-40 Grad Schrägstellung) gibt? Es könnte sein, dass damit die Wahrscheinlichkeit einer Re-Infektion mit ihren Darmparasiten vermindert wird, wenn die Parasiten die Darmpassage beim Schiffshalter nicht überleben oder abseits der Weidegründe der Seekuh landen.

In diesen Tagen wird auf politischer Ebene über die Fördermaßnahmen für das Wiederankurbeln der Wirtschaft nach der COVID-19-Krise debattiert. Diese spezielle Herausforderung bietet die einzigartige Chance, die Wirtschaft nachhaltig Richtung Klimaschutz auszurichten. Darum fordern einige Tiroler Umweltorganisationen in einer gemeinsamen Aktion unter dem Motto #schauaufsklima die Tiroler Landesregierung zum klimabewussten Handeln in dieser wichtigen, zukunftsweisenden Angelegenheit auf.

Sehr geehrte Mitglieder der Tiroler Landesregierung!
Die COVID19-Krise hat gezeigt, dass professionell kommunizierte politische Steuerung, auch wenn sie stark in Grund- und Freiheitsrechte von Individuen und Gruppen eingreift, von der Bevölkerung weitgehend positiv bewertet wird und Bereitschaft zu adäquatem Handeln und Verzicht besteht. Sie haben gezeigt, dass in Krisenzeiten klare, auf der Basis von wissenschaftlicher Expertise gefällte Entscheidungen zum Erfolg führen.

Nach Überwindung des ersten Infektionspeaks sind die Herausforderungen keineswegs geringer geworden. Im Sinne eines vorausschauenden, längerfristigen Risikomanagements geht es nun vordergründig darum, durch gezielte Fördermaßnahmen soziale Härten auszugleichen, die wirtschaftliche Leistung wieder anzukurbeln und dabei ein mögliches Wiederaufflammen von COVID19-Infektionen in Grenzen zu halten.

Eine „Rückkehr zum gewohnten Alltag“ kann und darf es aber nicht geben – es gilt vielmehr, die Chance aus der Corona-Krise zu packen, um eine „Rückkehr zu einem verbesserten Alltag“ zu erreichen! Wie wir wissen, liegt die große aus dem Voranschreiten des Klimawandels resultierende Krise noch vor uns. Wenn nicht jetzt gegengesteuert wird, wird diese weit katastrophaler enden, als alle Szenarien, die im Zusammenhang mit COVID19 denkbar sind. Daher gilt es, die als zentralen Punkt im Regierungsprogramm der Bundesregierung verankerte Klimaneutralität bis 2040 ernsthaft und konsequent voranzutreiben. Die hierzu nötigen politischen Entscheidungen sind nicht minder herausfordernd und können nicht aufgeschoben werden. Entscheidungen müssen jetzt getroffen werden!

Wir drängen darauf, dass die in der COVID19-Krise erfolgreich praktizierte Entscheidungsfindung aufgrund wissenschaftlicher Evidenz auch in der Klimakrise mit gleicher Professionalität gehandhabt wird, sind doch die wissenschaftlichen Fakten wesentlich klarer als in der Corona-Frage. Die nächsten fünf Jahre sind der Zeitraum, der über die Zukunft der Menschheit entscheidet. Durch konsequente und vorausschauende Klimaschutzmaßnahmen kann jetzt die Klimakrise noch so weit abgefangen werden, dass eine völlige Destabilisierung des Klimasystems im buchstäblich letzten Moment verhindert werden kann. Wenn diese Maßnahmen hinausgezögert werden und nach dem Motto zurück zum „Business as usual“ gehandelt wird, wird uns nichts mehr vor der Klimakatastrophe retten. Die Verantwortung dafür liegt in Ihrer Legislaturperiode!

In der zeitlichen Koinzidenz liegt eine große Herausforderung, aber die Ähnlichkeit der Krisensituationen bietet auch eine große Chance, die Überwindung von zwei global getriebenen Bedrohungen durch eine gemeinsame Strategie zu bewerkstelligen. In diesem Sinn wird in dieser Legislaturperiode nicht nur über eine kurzfristige Krisenbewältigung, sondern v.a. auch über die längerfristige Zukunft Tirols und der Menschheit entschieden werden.

Deshalb fordern wir die Landesregierung im Sinne des Regierungsprogramms „Aus Verantwortung für Österreich“ auf, die jetzt in Folge der COVID19-Krise geplanten finanziellen Unterstützungen:

1. an Industrie und produzierendes Gewerbe mit verpflichtenden Auflagen zur kurzfristigen Reduktion und dem mittelfristigen Ausstieg aus Treibhausgasemissionen zur Erfüllung der Klimaschutzziele und Schritten hin zu einer Kreislaufwirtschaft zu koppeln.

2. im Dienstleistungssektor, speziell im Tourismussektor, mit Auflagen zu vergeben, die an den Nachhaltigkeitszielen der UN Agenda 2030 ausgerichtet sind.

3. im Verkehrssektor an den Ausbau eines emissionsfreien öffentlichen Personennah- und ­Fernverkehrs, an Maßnahmen zur Dekarbonisierung des Individual- und Güterverkehrs sowie der Reduktion von Kurzstreckenflügen zu binden.

4. im Land- und Forstwirtschaftssektor mit Auflagen zur vermehrten Speicherung von Kohlenstoff in Holz und Boden, zur Förderung der Biodiversität und zur Steigerung der nachhaltigen Produktion von Lebensmitteln zu verbinden.

5. insgesamt so zu gestalten, dass die zur Sicherstellung der kritischen Infrastruktur erforderlichen Bereiche stärker berücksichtigt werden und die Resilienz Tirols durch die Diversität von Klein- und Mittelbetrieben in allen Sparten und die Sicherung nationaler Produktionsstätten lebenswichtiger Güter steigt.
 
6. von Haushalten im Sinne der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 gestalten und alle in Tirol lebenden Menschen sozial abzusichern und Kinder vor Armut zu bewahren.

Diese Entscheidungen müssen jetzt getroffen werden und erlauben keinen Aufschub. Die Landesregierung kann damit ihre in der COVID19-Krise gezeigte Kompetenz im Krisenmanagement beweisen und weiter ausbauen. Tirol wird damit im nationalen und europäischen Kontext und vor allem im Verbund mit anderen ähnlich vorausschauenden Regionen die Vorreiterrolle im erfolgreichen Umgang mit den großen Herausforderungen untermauern.

Wir sind bereit dazu, die Tiroler Landesregierung bei der Bewältigung dieser Aufgaben zu unterstützen.

Scientists for Future – Tirol und Vorarlberg (S4F – Tirol und Vorarlberg)
Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI)
Austrian Biologist Association – Regionalgruppe Westösterreich

Ich persönlich bin der Meinung und Überzeugung, dass auch wir BiologInnen, neben der Erforschung, Anwendung und Verbreitung von biologischem Wissen, uns dafür einsetzen sollten, dass politische Rahmenbedingungen zur Aufwertung von Umwelt- und Klimathemen geschaffen werden. Mit dieser Aktion bietet sich die Möglichkeit, die Kräfte der zahlreichen sich für die Umwelt einsetzenden Gruppierungen zu bündeln und den Druck auf die Regierung zu erhöhen.

Lena Nicklas, Leiterin der Westösterreichischen BiologInnen-Vereinigung (Regionalgruppe der ABA)

Dieser offene Brief an die Tiroler Landesregierung ist der Auftakt für eine Reihe weiterer Aktivitäten im Rahmen von “Wann wenn nicht jetzt? #schauaufsklima”. Über eine Woche hinweg wird es von verschiedenen Organisationen, wie Netzwerk BINE Tirol, POW, Klimabündnis Tirol, Fridays for future, Klimavolksbegehren und weiteren Kultur- und Wirtschaftsschaffenden Presseaussendungen geben, die in einer gemeinsamen Pressekonferenz enden.
Wir werden alle Beiträge auf unseren Social-Media-Kanälen teilen. Es erwartet uns eine spannende Woche!

Ernst Bromeis hat die größten Seen der Schweiz durchschwommen, den Rhein in voller Länge und ein Stück des Baikals – nicht für den Sport, sondern für eine besondere Botschaft. Die WÖB hat mit dem Extremschwimmer über das Wasser als Menschenrecht gesprochen, über Mut und Grenzerfahrung, trügerische Lösungen und die Chance, mit den eigenen Fähigkeiten durch kleine Aktionen Größeres in Gang zu setzen.

Es ist Rushhour unter dem Blick von Niki de Saints Phalles buntem Engel: Ankommende Züge, Menschen mit Reiseutensilien, viele von ihnen edel mit Zigarren, noblen Anzügen, Wildledertaschen oder sonstigen Attributen, die vom gehobenen Lebensstil Zürichs zeugen. Mittendrin, am vereinbarten Treffpunkt, sticht ein Mann aus dieser Masse hervor – etwas zu sportlich in seiner Aufmachung für die Noblesse ringsum.

Ernst Bromeis grüßt freundlich, vergibt die paar Minuten Unpünktlichkeit und weiß auch gleich wohin. Ob „Mundart“ für das Gespräch gut sei, fragt er über seine Espressotasse hinweg – einen Stock oberhalb der wuselnden Bahnhofshalle, ruhiger, obgleich nicht weniger schick. Er dachte vermutlich erst an seine Heimatsprache Romanisch vom Engadin – bleibt aber dann doch bei einer schweizerischen Standardvariante, als er beginnt vom Rhein zu erzählen. Ihm fühlt er sich am nächsten, weil er alles in sich trägt und irgendwie auch sein Leben widerspiegelt.

(c) Das blaue Wunder – Andrea Badrutt

Zwischen zwei Polen

Als Bromeis zum ersten Mal in den Rhein stieg, um ihn der Länge nach zu durchschwimmen, und damit scheiterte, war ihm nicht bewusst, was diesen Fluss wirklich ausmachte. „Er bewegt sich zwischen zwei Polen oder Kontrapunkten“, erklärt Bromeis, als passionierter Klavierspieler mit den Begriffen der Musik vertraut. „Der Rhein entspringt in den Alpen, in einer sehr archaischen, menschenleeren Landschaft, und mündet schließlich bei Rotterdam – einem der größten Häfen der Welt, Sinnbild für Zivilisation und Globalisierung – in die Nordsee…

…sich ins Wasser zu begeben, einzutauchen und vom Archaischen in die Zivilisation reinzuschwimmen, das fasziniert mich bis heute.”

Diese Faszination mag auch daher rühren, dass sich Bromeis mit seiner Tätigkeit ebenfalls zwischen zwei „Polen“ oder vielmehr Welten bewegt: An Land ist er heute Wasserbotschafter – einer, der bei Vorträgen vor seinem Publikum steht und versucht, es mit Worten zu bewegen, zum Nachdenken zu bringen über dieses lebensnotwendige Element. Im Wasser aber ist er es, der sich bewegt und dazu schweigt. Dort ist er nur Schwimmer: „Ich bin dann in einem fluiden Element, wo ich keinen Stand mehr habe, wo ich nichts greifen kann“, erklärt Bromeis, „im Wasser ist alles anders als an Land, da herrschen andere physikalische Gesetze. Auch der Mensch funktioniert anders im Wasser. Ich finde es sehr bereichernd, dass ich zwischen beiden Welten wählen und leben darf.“

Der Traum von der Tour de France (c) Bromeis

Zwei „Welten“ waren es auch, die Bromeis durch seine Kindheit im Engadin begleiteten. In der Familie stand die Musik im Zentrum, in der Gesellschaft der Sport. Gepflegt hat er beides. Er wollte zunächst Lehrer werden, um beide Fächer unterrichten zu können. Als ihn der Lehrberuf nicht ausfüllte, träumte er von der Tour de France.

„Aber ich war nicht für die Träume als Spitzenathlet in einem gedopten Umfeld gemacht.“

Was nun? Musik oder doch Sport? Ganz klar, der Ernst geht in die Musik, haben die meisten Leute gesagt und sich geirrt – denn „der Ernst“ machte schon damals nie, was nach Meinung anderer geschehen sollte. Bromeis wählte Sport, diesmal aber nicht als Athlet. Er wurde Trainer im Spitzensport und hatte damit Erfolg, blieb aber unruhig. Er merkte, dass er sich sein eigenes „Gefäß“ schaffen musste, um kreativ zu sein. „Ich wollte etwas bewirken – nicht nur Medaillenträume erfüllen, sondern gesellschaftlich etwas gestalten, aber mit den Mitteln, die ich habe, um mich ausdrücken zu können. So ist 2007 das Projekt Das blaue Wunder entstanden“, erzählt er und nimmt noch einen Schluck Kaffee.

Premiere: Bromeis durchschwimmt die großen Seen des Oberengadins (c) Das blaue Wunder – Andrea Badrutt

Grenzschwimmer – 1.230 km von der Quelle bis zur Mündung

Die Idee war plötzlich da: Er würde das Wasser zu seinem Beruf machen und als Schwimmer hinweisen auf jene Ressource, die in unseren Breiten viel zu oft als selbstverständlich und unerschöpflich wahrgenommen wird. Das größte Süßwasser- reservoir der Welt wollte er durchschwimmen, um ein Zeichen zu setzen. „Aber du kannst beim Klettern auch nicht mit dem größten Berg anfangen“, räumt Bromeis ein, „also bin ich vor meiner Haustüre gestartet.“ Er durchschwamm zunächst 200 Bergseen in seinem Heimatkanton Graubünden. Danach folgte der größte See in jedem Schweizer Kanton. Er legte, wenn zeitlich möglich, die Strecken dazwischen mit dem Rennrad zurück. So brachte er das Wasserthema unter die Leute, hielt Vorträge, sprach mit den Medien. Das Echo war enorm und Bromeis schnell klar: Der Aktionsradius muss weiterwachsen.

2012 nimmt er schließlich die 1.230 Kilometer des Rheins in Angriff – von der Quelle in Graubünden bis zur Nordsee. „Wenn du an der Quelle stehst, am Anfang dieses Weges, ist da immer Demut“, erinnert er sich an diesen besonderen Moment, „aber du musst auch mutig sein. Du springst hinein in eine andere Welt, das kann Angst machen – gleichzeitig ist es aber auch Vorfreude.“

Am Rheinfall (c) Das blaue Wunder – Dorothée Meddens

Das erste Mal klappt das Vorhaben tatsächlich nicht. Erst beim zweiten Anlauf 2014 bezwingt Bromeis den Rhein trotz Hochwasser und Kälte. Dabei schwimmt er sechs bis acht Stunden am Tag, mit kleinen Pausen. Am Schluss taten ihm die Schultern weh, der Rücken, so vieles schmerzte. Durchhalten ließ ihn der Glaube an die Wirkung seiner Aktion. „Es geht mir nicht um die Stoppuhr“, betont er. Es geht ihm um die selbst gestellte Aufgabe, im Dienste einer Botschaft an die Gesellschaft:

Wasser ist lebensnotwendig, aber endlich und darum schützenswert.

Schwimmt man so lange Strecken, fällt nämlich auf: Wasser ist nicht gleich Wasser. Es verändert sich. Am Rhein habe es viel Treibgut wegen der Regenfälle gegeben, so Bromeis. Bei seiner Expedition 2015 Richtung Mailand habe er die Veränderung dann sogar schmecken können. Irgendwann war es einfach nicht mehr Lago Maggiore Wasser, es war dann der Fluss Ticino, dann der Kanal: „Durch den Kanal geht’s hinab, es ist Ende Sommer, alles steht. Du siehst, dass Verschiedenes mit dir mitfließt, ob Exkremente oder nicht kannst du nicht sagen, aber vor Mailand spürst du dann schon, dass es nicht einfach Sedimente sind, die da mit dir mitkommen – es ist Dreck.“ Laut Kanalbetreiber sei das Wasser okay gewesen, die Ärzte in Mailand hielten Bromeis für verrückt. Schwimmen, in dieser Brühe?!

© Das blaue Wunder-Christian-Gartmann

Vom Mikroplastik zum Makroproblem

Er selbst fand das bezeichnend für ein generelles Problem, das wir heute mit der Wassergüte haben. „Uns wird suggeriert, dass wir im Wasserschloss leben. Wunderbare Gewässer, touristisches Kapital. Das ist aber nur so, weil man die ganze Makroverunreinigung herausgebracht hat. Es stinkt nicht mehr, ist nicht offensichtlich dreckig“, bemerkt Bromeis. Vom Mikroplastik wisse man zwar, dass es existiere, aber dazu habe man keinen Bezug. „Das ist das, was uns in einer falschen Sicherheit wiegt und uns nicht sehen lässt, was wirklich ist. Aber wie wichtig wäre es, dass wir jetzt den nächsten Schritt machen.“ Man könne immer etwas tun, so Bromeis, überall auf der Welt. Sogar für Orte wie den Nil, den Ganges oder den Amazonas.

„Man bedenke: Die Kläranlage von Basel ist erst 1982 gebaut worden. Bis zu dem Zeitpunkt ist in Basel, in der hochentwickelten Schweiz, der ganze Dreck in den Fluss gekippt worden – heute unvorstellbar. Es gibt also sehr wohl Hoffnung, dass größere und kleinere Flüsse sauberer sein könnten, wenn wir Menschen die richtigen Schlüsse und schließlich auch die Konsequenzen zögen.“

Projekte für technisch ausgeklügelte, teure Abwassersysteme lassen sich heute in der finanziell gut situierten Schweiz allerdings etwas leichter umsetzen als etwa in Indien oder Afrika, vorausgesetzt die Bereitschaft zur Veränderung ist da. Das ist auch Bromeis klar. In manchen Gegenden Afrikas beispielsweise müsse daher ein wesentlich leistbareres Abwassersystem her – mancherorts sei nämlich nicht die Wasserknappheit das Problem, sondern die Kontamination. Aus dem Teufelskreis müsse man rauskommen – Wasser und freier Zugang dazu sei ein Menschenrecht und eine Menschenpflicht.

Kraftwerk Reckingen © Das blaue Wunder – Dorothée Meddens

Differenzierung statt One-Way-Solution

Nicht, dass in der Schweiz alles Gold wäre was glänzt. Das zeige laut dem Wasserbotschafter auch der Energiesektor. Beinahe 60 % der erneuerbaren Energie in der Schweiz werden über Wasserkraft produziert. Seit größere Wasserkraftwerke kaum mehr gebaut werden dürfen, stürze man sich auf Kleinwasserkraft:

„Das versucht man dann als saubere Energie zu verkaufen“, meint Bromeis kopfschüttelnd, „so werden aber auch die letzten Seitenarme der Flüsse zerstört.“

Dabei gebe es Alternativen. Die Lösung wäre mehr Differenzierung, findet Bromeis, „man sollte sich fragen: Was wäre die richtige Energie für den Alpenraum, was für Menschen am Meer? Was für Indien, was für Afrika? Doch der nötige Dialog dazu fehlt.“ Die Politik sei darin kein Vorbild und das mache es schwer. „Stattdessen will sie einfach die ganze Gesellschaft elektrifizieren – über Nacht.“

Es ist ein bisschen wie bei der Rheinexkursion: Neues braucht eben Mut. „Mut, das partikulare Interesse in den Wind zu schießen für die Allgemeinheit. Aufeinander zugehen hat für beide Seiten Vorteile. Wir haben das als Menschheit nur noch nicht gelernt“, ist Bromeis überzeugt, „Momentan leben wir in einer Welt, wo ein Teil ständig versucht zu bewahren, was früher einmal funktioniert hat. Nun wagt man aber nicht den Schritt nach vorn. Die Schneesportindustrie ist das beste Beispiel.

Lej-da-Rosatsch-(c)-Andrea-Badrutt

“Wir versuchen krankhaft an etwas festzuhalten, das 150 Jahre gut lief, aber jetzt mit der Klimakrise kommen wir an den Anschlag.“

Die Industrie und die ökologische Seite müssten endlich einen Kompromiss finden. „Aber jeder denkt nur an sich: Noch fünf Jahre arbeiten, dann bin ich pensioniert, dann hab ich mein Problem gelöst. Die Zusammenarbeit aber wagt keiner.“ Auch das sieht Bromeis als seine Aufgabe: Brückenbauer sein zwischen verschiedenen Zielgruppen. Er setzt sich für die Wasserbildung im Tourismus ein und für das Wassersolidaritätsprojekt Solidarit’eau Suisse oder Blue Peace. 

„Ich halte Vorträge für völlig verschiedene Menschen: Für Spitzensportler, Kirchengemeinden, für die ETH Zürich.  Es liegt bei mir, wie ich mit wem rede. Der Sinn bleibt immer der gleiche. Ich kann jedoch der sein, der den Zugang legt.“

Allerdings gibt es auch skeptische Leute, die auf Distanz gehen und nicht kooperieren wollen – man nehme ihn dann als Eindringling wahr, als Konkurrenten, der in ein fremdes Territorium eindringt und dort alles über den Haufen werfen will. So mancher zweifelt auch an seinen Absichten. „Trotzdem versuche ich zu verbinden, nicht zu teilen“, betont Bromeis, „Polarisierung führt uns weg von der Differenzierung, sie bringt nur Konflikt.“

Am Baikal (c) Das blaue Wunder – Maurice Haas

Schwimmend den ältesten See der Welt bezwingen

Am 11. Juli 2019 bricht Bromeis zu seinem bislang größten Abenteuer auf: zum über 670 km langen, von Gebirgen umsäumten Baikalsee in Sibirien. Mit seinen 1.642 m Tiefe und den rund 25 Millionen Jahren auf dem Buckel, ist der Baikal der tiefste und älteste Süßwassersee und damit das größte Süßwasser-Reservoir der Welt. Die schiere Größe des Sees wird für Bromeis zur unüberwindbaren Herausforderung. „Ist man sehr lange im Wasser unterwegs, ist es viel schwieriger den Fokus zu behalten als an Land“, erklärt der Schwimmer, „an Land ist der Fokus sichtbar. Das Phänomen ist vergleichbar, wenn man beispielsweise die Antarktis quert und ein Whiteout erlebt. Aber an Land gibt’s theoretisch immer einen Horizont, der dir Kraft und Orientierung gibt. Im Wasser allerdings – und der Baikalsee hat in der Regel auch nicht Korallenriffe – siehst du nur ins Schwarze hinab, du verlierst den Fokus.“ Nach 60 km gibt Bromeis auf, gezwungenermaßen.

Warum?

Das interessiert die Zuhörer immer am meisten, verrät er schmunzelnd über seine Kaffeetasse hinweg. Aber auch ihn scheint die Frage immer noch zu beschäftigen. Er denkt kurz nach: „Weil es auf vielerlei Weise eine Überforderung gewesen ist“, sagt er dann langsam „und das hat sich mit den Herzrhythmusstörungen gezeigt. Wenn etwas nicht geht, gibt es immer Gründe. Aber wer scheitert, kann auch gescheiter werden, nur ist das in unserer westlichen Gesellschaft immer negativ konnotiert, oder? Du darfst schon tausend Mal scheitern, aber du musst tausendundeinmal wieder aufstehen. Etwas anderes geht nicht in unseren Breitengraden.“

Zukunftspläne – Von Bächen und Strömen

Und nun? Am Ende ist auch Bromeis ein Kind dieser Gesellschaft. Scheitern gilt nicht, dafür ist er wohl zu sehr Sportler. Die letzte Exkursion hat er abgeschlossen, aber der Baikal an sich lässt ihm keine Ruhe. Bei einem zweiten Anlauf, würde er allerdings im Norden anfangen, weil er im Süden schon war, und weil es ein ganz unglaubliches Gefühl wäre, am Ende nochmal dort vorbeizukommen, wo er schon mal vorbeigeschwommen ist, sagt er. Außerdem…

„bin ich auch an den Baikal gegangen mit dem Wissen, dass ein Wasserbotschafter zu wenig ist für die Welt. Es braucht mehr. Dem Gedanken will ich jetzt weiter nachgehen und sehen, ob ich es schaffe, eine Wasserbot- schafterInnen-Bewegung in Gang zu setzen.“

Was er bislang erreicht hat, möchte er nicht in Zahlen oder Statistiken fassen. Qualität messe sich nicht an Statistiken. So wie er versucht seinen Kindern im Alltag Achtsamkeit beizubringen, so möchte er die Menschen mit seinem Engagement für das Wasser anstecken. Das sei sein „Geschenk“ an die Menschen, sagt er und lässt den Blick durchs mittlerweile halbleere Café Richtung Fenster schweifen, wo sich bereits der Abend ankündigt. „Ich habe nie das Ziel den ganzen Saal zu überzeugen. Es reicht, wenn nur ein paar darunter sind. Ich sehe, dass ich mit Leuten, die für die gleiche Sache kämpfen wie ich, etwas erreiche. Sollte ich nur ein Tropfen sein und der andere ein Tropfen, sind wir zusammen schon zwei und dann noch einer und so weiter. Menschen, die sich auf ihre Art für etwas engagieren, sind vielleicht ein Bach, vorerst noch kein Strom, aber es ist eine Bewegung da und ich bin glücklich ein Teil von dieser Bewegung zu sein, die zum Strom wachsen kann.”

Mehr Infos unter: Das blaue Wunder

Titelbild: Auf großen Äckern werden zum Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln Spritzgeräte in Kombination mit einem Kraftfahrzeug verwendet (Foto: Frank Vincentz, CC BY-SA 3.0)

Pflanzenschutzmittel, umgangssprachlich als „Spritzmittel“ bezeichnet, sind routinemäßiger Bestandteil unserer Landwirtschaft und damit unserer Lebensgrundlage. Leider sind Informationen zu diesem kontroversen Thema – mit Ausnahme des berühmten Glyphosats – gut versteckt in sperrigen Gesetzestexten, Sicherheitsdatenblättern und Studien. Dieser Artikel versucht hier einen Zugang zu legen und einen komprimierten Überblick zu verschaffen, denn wie der Philosoph Michel Foucault einst meinte:  Machtausübung und Weiterentwicklung funktioniert in einem modernen Staat in erster Linie über Informationsbeschaffung. Dies gilt umso mehr weil über 90 % der Österreicher nicht unmittelbar in der Landwirtschaft tätig sind.

Mehr als Chemie

Pflanzenschutzmittel umfassen allgemein Substanzen, Methoden und Organismen, die dazu dienen, Kulturpflanzen vor Krankheitserregern, Fressfeinden, Parasiten sowie Konkurrenten zu schützen oder aber das Wachstum der Pflanzen auf gewünschte Weise zu beeinflussen. In der öffentlichen Diskussion allerdings beschränkt sich der Begriff meistens tatsächlich auf industriell synthetisierte Chemikalien, die bei der Bekämpfung diverser landwirtschaftlicher „Schädlinge“ Einsatz finden. Weit größeren Einfluss auf die Pflanzengesundheit haben jedoch Faktoren wie die Auswahl geeigneter Sorten für einen bestimmten Standort, Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit oder eine durchdachte Fruchtfolge.

„Integrierter Pflanzenschutz“ was ist das?

Gemäß dem Konzept des Integrierten Pflanzenschutzes sollen chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel nur eingesetzt werden, wenn keine sinnvolle mechanische oder biologische Methode zur Verfügung steht. Das Vorsorgeprinzip wiederum verpflichtet Pflanzenschutzmittel-Anwender im Zweifelsfall eine Pflanzenschutzmethode zu wählen, die die menschliche Gesundheit und die Umwelt möglichst nicht schädigt – will sagen „vorsorglich“ agiert. Das Vorsorgeprinzip greift also bereits, wenn negative Auswirkungen wahrscheinlich, aber noch nicht zur Gänze bewiesen sind. Sowohl der Integrierte Pflanzenschutz als auch das Vorsorgeprinzip sind in der EU gesetzlich verankert (der Integrierte Pflanzenschutz im Speziellen in der Richtlinie 2009/128/EG).

Das Problem mit dem Pudel

Unter diesen Gesichtspunkten könnte man als unvoreingenommener Beobachter meinen, dass der Einsatz chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel doch selten sein müsse. Tatsächlich ist ihr Einsatz aber wesentlicher Bestandteil unserer konventionellen Landwirtschaft. „Des Pudels Kern“ in diesem Fall ist unter anderem folgender: Die genannten gesetzlichen Bestimmungen werden von den Anwendern und Interessensverbänden teilweise bewusst anders interpretiert oder sogar ignoriert. Zusätzlich sind die Kontrollbehörden zum Teil damit überfordert (oder nicht willens?) komplexe Konzepte wie den integrierten Pflanzenschutz einzufordern und dessen Einhaltung zu kontrollieren. Man beschränkt sich bei Kontrollen oft auf Formales und auf das, was leicht kontrollierbar ist. So prüft man etwa, ob die persönliche Schutzausrüstung vorhanden ist oder ob die sogenannten ‘Spritztagebücher‘ alles vorbildlich dokumentieren. Wie plausibel die Aufzeichnungen sind und ob die Pflanzenschutzmittel-Anwendungen korrekt erfolgten, kann oft nur schwer und mit viel Aufwand nachvollzogen werden. Zur Einhaltung eines Integrierten Pflanzenschutzes und des Vorsorgeprinzips tragen solche Kontrollen daher nicht ausreichend bei – mit maßgeblichen Folgen für Gesundheit und Umwelt.

Abb. 3: Gemüsefelder und Erntehelfer in Kematen, Tirol

Wie aus einer Revolution und einem folgenschweren Paket die Gegenwart wurde

Um die heutige Situation und den Einsatz chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel nachvollziehen zu können, ist es wichtig, die historische Dimension zu kennen. Während der industriellen Revolution kam es zu vielfältigen, unter anderem naturwissenschaftlichen Entwicklungen, die in der sogenannten Grünen Revolution in den 1960ern gipfelten – aus heutiger Sicht ein doppeldeutiger Begriff. Dabei erhielten Landwirte nämlich ein spezielles Angebot: ein folgenschweres Gesamtpaket aus synthetischen, schnell löslichen Düngern (den Durchbruch brachte das Haber-Bosch-Verfahren), Neuzüchtungen von Nutzpflanzen mit höheren Erträgen und synthetischen Pflanzenschutzmitteln.

Dass die Grüne Revolution, wie viele andere Revolutionen, eine klare (macht)politische Dimension hatte, zeigte die federführende Beteiligung der US-Regierung und der Rockefeller Foundation. Norman E. Borlaug, ein US-amerikanischer Agrarwissenschaftler und Pflanzenzüchter, erhielt für seine Bemühungen im Zuge der Grünen Revolution 1970 den Friedensnobelpreis. Sein erklärtes Ziel war eine Ertragssteigerung, um den Welthunger zu bekämpfen.

Während sich die (absolute) Weltagrarproduktion im Vergleich zu damals tatsächlich erhöht hat, besteht das Problem des Hungers bekannterweise bis heute. Zusätzlich verursacht die konventionelle, auch sehr pestizidlastige Landwirtschaft, die einst aus der Grünen Revolution entstand, mittlerweile hohe Kosten und Schäden für die Allgemeinheit. Zu diesen zählen ein hoher Ressourcenverbrauch (Wasser, Energie, Rohstoffe), Bodenbelastung, Erosion und Schadstoffbelastung (Treibhauseffekt!), Biodiversitäts- und Lebensraumverlust und damit einhergehende Verluste an Lebensqualität für den Menschen. Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) empfiehlt daher eine ökologischere, ganzheitliche Form der Landwirtschaft, die ebenso die Weltbevölkerung ernähren kann und dies auf bedeutend nachhaltigere Weise.

Abb. 4: Strukturformel Glyphosat

Glyphosat und seine Gefährten

Auch wenn es bis heute (Jänner 2020) nicht umgesetzt wurde, beschloss das österreichische Parlament 2019 ein Verbot des bekannten Wirkstoffs Glyphosat – einer der weltweit am häufigsten eingesetzten Unkrautvernichter. Der Wirkstoff ist unter anderem Bestandteil von Monsantos prominentem Produkt RoundUp. Das mag hierzulande den Eindruck erweckt haben, man hätte einen großen Schritt in Richtung Reduktion des Pflanzenschutzmitteleinsatzes unternommen. Tatsächlich ist Glyphosat in der österreichischen Landwirtschaft aber von relativ geringer Bedeutung, eher träfe das Verbot Verwalter öffentlicher Grünanlagen oder die Bahnbetreiber.

Abb. 5: Unsachgemäß gelagertes Insektizid Agritox aus einer Wohnungsentrümpelung
Foto: Barbara Leuprecht

Von den circa 1.470 derzeit in Österreich zugelassenen Pflanzen­schutz­­mittel­­produkten (Stand August 2019) haben viele zudem eine höhere Gefährdungs­­­einstufung als die berüchtigten Produkte mit Glyphosat. Nur sind diese Produkte außerhalb von Anwenderkreisen kaum jemandem bekannt. Da wären beispielsweise folgende:

Das Insektenbekämpfungsmittel (Insektizid) Agritox (Register-Nummer 1797-0) mit dem Wirkstoff Chlorpyrifos ist in Österreich seit 1974 zugelassen. Es ist offiziell eingestuft als gesundheitsschädlich und gewässergefährdend. Zudem ist es für Bienen gefährlich. Die European Food Safety Authority (EFSA) geht beim Wirkstoff Chlorpyrifos seit 2011 auch von einem hohen Langzeitrisiko für Säugetiere aus. In einer verantwortungsbewussten, aktuellen Entscheidung der EU-Kommission wurde die Zulassung von Chlorpyrifos nicht mehr verlängert. Das bedeutet konkret dass der Wirkstoff in der gesamten EU nur mehr bis 16. April 2020 verwendet werden darf.

Das Pilzbekämpfungsmittel (Fungizid) Askon (Reg. – Nr. 3077-0) wird im Gemüsebau gegen verschiedene Erreger von Pilzkrankheiten eingesetzt. Die Wirkstoffe sind Azoxystrobin und Difenoconazol, die beide unterschiedliche biochemische Wirkmechanismen aufweisen. Askon ist offiziell eingestuft als akut toxisch beim Einatmen, chronisch gewässergefährdend sowie als sensibilisierend für Haut und Atemwege.

Accurate (Reg. – Nr. 2956-0) ist wie das erwähnte RoundUp ein Unkrautvernichter (Herbizid), allerdings wirkt es nur auf zweikeimblättrige Pflanzen. Es ist in Österreich im Getreideanbau zugelassen und wird gegen „Unkräuter“ wie Klatschmohn, Vogelmiere oder Hirtentäschel verwendet. Offiziell anerkannt ist, dass es schwere Augenschädigungen verursachen kann, sowie chronisch und akut Gewässer gefährdet.

Man könnte noch viele weitere Beispiele nennen. Auf dem Weg zu einer ökologischeren, nachhaltigen Landwirtschaft sind auf jeden Fall noch weitere politische Reformen nötig, die von einer umfassend informierten und selbstbestimmten Öffentlichkeit angestoßen werden müssen. Ebenso wichtig ist es, das Bewusstsein für den Integrierten Pflanzenschutz zu stärken und Alternativen zur konventionellen Landwirtschaft zu erforschen. Derzeit wird von den gesamten Forschungsgeldern im Agrar- und Nahrungsmittelbereich nur circa ein Prozent für die Erforschung des ökologischen Landbaus aufgewendet.

Landwirtschaft ist eine der wesentlichsten und schönsten Berufungen der Menschheit. Als solche sollte sie kein Nischenthema nur für Spezialisten sein, sondern Bestandteil der Allgemeinbildung und so eine starke gesellschaftliche Teilhabe stimulieren. 

Mahlzeit!

Abb. 6: Roggen

Weiterführende Literatur:

  • Bundesamt für Ernährungssicherheit (2019). Österreichisches Pflanzenschutzmittelregister. Online: https://psmregister.baes.gv.at/
  • Carson, Rachel (1971). Silent Spring. Penguin, Harmondsworth.
  • Dowswell, Christopher (2009). Norman Ernest Borlaug (1914-2009). Science, Vol. 326, Issue 5951.
  • EFSA (2011). Conclusion on the peer review of the pesticide risk assesment of the active substance chlorpyrifos. EFSA Journal 2011;9(1):1961. [14 pp.]
  • Kiss, F. & Steinert A. (2018). Handbuch Pflanzenschutz im Biogarten. Löwenzahn, Innsbruck.
  • Löwenstein, Felix (2015). Es ist genug da. Für alle. Knaur, München.
  • UNCTAD (2013). Wake up before it is too late: Make agriculture truly sustainable now for food security in a changing climate. Trade and Environment Review 2013, Genf. Online: https://unctad.org/en/pages/PublicationWebflyer.aspx?publicationid=666
  • Zaller, Johann G. (2018). Unser täglich Gift: Pestizide – die unterschätzte Gefahr. Deuticke, Wien. 

 

Titelbild: Gernot Waiss

Einladung zum Start-Workshop des Mitmach-Projekts

Sind Sie gerne in der Natur unterwegs und interessieren sich für die heimische Tierwelt? Oder sind Sie vielleicht sogar selbst Eigentümer oder Pächter einer Streuobstwiese?

Wir suchen naturbegeisterte Menschen, die mit uns an drei Tagen im Jahr die Fauna der Streuobstwiesen im Biosphärenpark Wienerwald erkunden wollen. Seltene und faszinierende Arten wie Wendehals, Wiedehopf, Steinkauz, Gartenrotschwanz, Mauswiesel, Baumschläfer, Segelfalter oder Gartenhummel warten darauf, von Ihnen entdeckt zu werden!

Streuobstwiesen sind ein unverzichtbares Landschaftselement im Biosphärenpark Wienerwald. Im Frühling bieten die blühenden Bäume einen prachtvollen Anblick, im Herbst versorgen sie uns mit köstlichen Früchten. Aber nicht nur wir Menschen profitieren von Streuobstwiesen. Zahlreiche, teils seltene Tierarten sind auf diesen speziellen, abwechslungsreichen Lebensraum angewiesen. Wir wollen die Artenvielfalt unserer heimischen Streuobstwiesen erforschen und so zu ihrer Erhaltung beitragen.

Bei diesem Start-Workshop können Sie sich unverbindlich informieren, wie, wo und wann Ihr freiwilliges Engagement in unserem Forschungsprojekt gefragt ist.

Wo: Festsaal der Österreichischen Bundesforste, Pummergasse 10-12, 3002 Purkersdorf
Wann: Freitag, 28.2.2020, 16:00-18:00 Uhr
Aus organisatorischen Gründen bitten wir um Ihre Anmeldung bis Freitag, 21.2.2020 unter 02231/63341-7171 oder biosphaerenpark@bundesforste.at.
siehe auch: www.bpww.at oder www.bundesforste.at/biosphaerenpark

Mag. Gernot Waiss
Projektleitung
0664 / 618 90 98
gernot.waiss@bundesforste.at

Titelbild: Eisbär am Eisrand: © Steve Morello / WWF-Canon

Klimawandel und Lebensraumzerstörung dezimieren Eisbären, Koalas und Jaguare – Hoffnung für Myanmars Elefanten, Saiga-Antilopen und Sehuencas-Wasserfrosch – WWF fordert globalen politischen Kraftakt zum Schutz tierischer und menschlicher Lebensgrundlagen.

WWF Österreich zieht Bilanz und veröffentlicht die tierischen Gewinner und Verlierer des Jahres 2019. Klimakrise, Lebensraumzerstörung und Wilderei sorgen dafür, dass die Internationale Rote Liste auf über 30.000 bedrohte Tier- und Pflanzenarten angewachsen ist – ein trauriger Negativrekord. Menschliche Eingriffe machen vor allem den Eisbären, Koalas und Jaguaren das Überleben schwer. Entgegen dem Trend gibt es aber auch gute Nachrichten aus dem Tierreich. In Myanmar werden kaum noch Elefanten gewildert. Die Saiga-Antilopen erholen sich von einer Seuche. Und womöglich kann der Bestand des Sehuencas-Wasserfroschs durch den Fund eines Weibchens gerettet werden.

„Der Mensch ist Zeuge und Verursacher des größten Artensterbens seit dem Verschwinden der Dinosaurier. Vor allem die Klimakrise verändert Ökosysteme in dramatischem Tempo. Viele Tiere und Pflanzen können sich nicht schnell genug anpassen.”

WWF-Artenschutzexperte Georg Scattolin.

Die globalen Bestände an Fischen, Vögeln, Säugetieren, Amphibien und Reptilien sind in den letzten 50 Jahren um durchschnittlich 60 Prozent eingebrochen. Auch Österreich ist kein Vorbild und verliert drastisch an Artenvielfalt. Etwa ein Drittel der heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten gilt als gefährdet.

„2020 braucht es einen globalen politischen Kraftakt für eine Trendwende im Umwelt- und Naturschutz. Erderhitzung und Artensterben sind Zwillingskrisen. Sie hängen unmittelbar zusammen und befeuern sich gegenseitig. Diese bedrohliche Entwicklung und die erschreckende Untätigkeit der Politik bedeuten nicht nur ein Fiasko für die Tierwelt. Letztlich zerstören wir damit unsere eigene Lebensgrundlage”, so Scattolin.

VERLIERER 2019

Eisbär (Ursus maritimus). Bild: Steve Morello / WWF-Canon

Eisbär:
Bis 2050 könnte die Arktis im Sommer komplett eisfrei sein. Doch Eisbären leben und jagen auf Packeis. Da ihr Lebensraum rapide schmilzt, halten sie sich schon jetzt vermehrt auf dem Festland auf. Angelockt von Nahrungsabfällen nähern sie sich dort menschlichen Siedlungen, was Konflikte verursacht und oft mit einem Abschuss endet. So wird die Klimaerhitzung nicht nur durch fehlendes Eis zum Überlebensproblem. Die Zahl der Eisbären ist auf Talfahrt, wie aktuelle Erhebungen der Weltnaturschutzunion IUCN belegen. Ein Drittel der globalen Population könnte bis 2050 verschwinden.

Koala (Phascolarctos cinereus). Bild: Shutterstock / Yatra / WWF

Koala:
Den ver­heerenden Busch­bränden in Australien fielen hunderte Koalas zum Opfer. Große Flächen an Eukalyptus­wäldern, zugleich Lebensraum und Nahrungs­grundlage der Koalas, sind niedergebrannt.

Doch auch ohne Großfeuer wird es für die Tiere immer enger. Australien rodet jedes Jahr schätzungsweise 500.000 Hektar Wald. In den vergangenen 25 Jahren ist die Koala-Population um rund ein Drittel eingebrochen.

Jaguar (Panthera onca) in Pantanal, Brasilien. Bild: Y.-J. Rey-Millet / WWF

Jaguar:
Eines von vielen Opfern der Regen­­wald­brände im Amazonas ist der Jaguar. Die Flammen zerstören ins­­besondere seine Reviere in Brasilien und Bolivien.

Mindestens 500 Raubkatzen starben im Feuer oder wurden aus ihrem Lebensraum vertrieben. Dadurch nehmen Konflikte zu. Die Tiere fliehen in andere Gebiete, auch in die Nähe von menschlichen Siedlungen, wo sie häufig erschossen werden.

Kaiserpinguine (Aptenodytes forsteri). Bild: © Fritz Pölking / WWF

Kaiser­pinguin:
Schreitet die Erd­erhitzung in diesem Tempo voran, könnte die Population der Kaiser­pinguine bis 2100 um 86 Prozent abnehmen, wie Untersuchungen des Ozeanografischen Forschungsinstituts WHOI prognostizieren. Das für die Pinguine überlebenswichtige Packeis schmilzt. Den Tieren fehlt zunehmend Lebensraum zur Jagd und als Schutz vor Feinden. Bereits jetzt beobachten Forscher einen massiven Rückgang der Population und weniger überlebende Jungtiere.

Sumatra-Nashorn (Dicerorhinus sumatrensis). Bild: naturepl.com / Mark Carwardine / WWF

Sumatra-Nashorn:
In Malaysia ist das letzte Sumatra-Nashorn eines na­türlichen Todes gestorben. In Indo­nesien gibt es derzeit nach WWF-Schätzun­gen nicht einmal mehr 80 Tiere, verteilt auf neun isolierte Population. Die Nashörner kämpfen mit drastischem Lebensraumverlust, da Wald für Palmölplantagen, Papierproduktion und Bergbau gerodet wird. Außerdem fallen zahlreiche Tiere der Wilderei zum Opfer.

Jangtse-Riesenweichschildkröte:
Das letzte bekannte Weibchen der Jangtse-Riesenweichschildkröte verstarb dieses Jahr in einem chinesischen Zoo. Nun lebt nur noch ein männliches Exemplar im Zoo in Suzhou. In Vietnams freier Wildbahn gibt es lediglich zwei weitere Exemplare, deren Geschlecht allerdings unbekannt ist.

GEWINNER 2019

Asiatischer Elefant (Elephas maximus). Bild: Julia Thiemann / WWF-Germany

Elefanten in Myanmar:
Noch 2017 wurde in Myanmar fast wöchen­tlich ein Ele­fant wegen seiner Haut getötet, die in dem süd­­ost­­asiatischen Land zu Haut­cremes verarbeitet wird. Der WWF intensivierte seine Arbeit zur Eindämmung der Wilderei – mit großem Erfolg. In den Regionen Bago und Yangon wurden überhaupt keine Elefanten mehr illegal erlegt. In Irrawaddy hat sich die Zahl gewilderter Elefanten von 16 auf 7 mehr als halbiert.

Saiga-Antilope:
Tausende mongolische Saiga-Antilopen fielen 2017 einem tödlichen Virus zum Opfer, der von Schaf- und Ziegenherden übertragen wird. Die Seuche und der folgende harte Winter waren fatal. Die Population schrumpfte von 11.000 auf 3.000 Tiere. Mittlerweile zeigen die ersten Saigas Immunität gegen den gefährlichen Krankheitserreger, wodurch die Population wieder wächst.

Sehuencas-Wasserfrosch:
Als letzter seiner Art lebte ein männlicher Sehuencas-Wasserfrosch fast zehn Jahre alleine in einem Aquarium des Naturhistorischen Museums Alcide d’Orbigny in Bolivien. Im Zuge einer gezielten Suchaktion fand man in den Nebelwäldern des Landes ein weibliches Pendant. Durch zahlreiche Nachkommen könnte die schwindende Art nun doch erhalten bleibt.

Goldschakal (Canis aureus). Bild: Ola Jennersten / WWF-Sweden

Goldschakal:
Da er wärmere Temper­aturen bevorzugt, breitet sich der Gold­schakal von seiner ange­stammten Region in Süd­osteuropa in die zunehmend milder werdende Mitte des Kontinents aus. Seine Population übersteigt in Europa momentan die des Wolfs um das Siebenfache. Auch im Osten Österreichs gibt es regelmäßige Sichtungen. Was für Artenschützer ein Grund zur Freude ist, nehmen Niederösterreich und das Burgendland zum Anlass, die europaweit streng geschützte Art zu bejagen. Obwohl der Erhaltungszustand immer noch ungünstig ist.

Hirschferkel:
Das hasengroße Huftier galt für fast 30 Jahre als verschollen. Im November 2019 sind mehrere Vietnam-Kantschile aus der Familie der Hirschferkel im Südosten Vietnams in Kamerafallen getappt. Die Region gehört zum Annamiten-Gebirge, einer der artenreichsten Regionen der Erde. Der WWF ist dort bereits seit Jahren für den Artenschutz aktiv.


Georg Scattolin ist der Leiter des internationalen Programms beim WWF. Er hat an der Universität Wien im Hauptfach Zoologie diplomiert.
Vor Beginn seiner WWF-Laufbahn im Jahr 2003 sammelte er Erfahrungen in den Bereichen Zoologie, Ökologie, Umweltbildung und Naturschutz im Rahmen von Tätigkeiten für die Universität Wien, das Naturhistorische Museum Wien und die internationale Kommission zum Schutz der Donau.
Scattolin hat das Meeresprogramm des WWF Österreich begründet, war danach im Auftrag des WWF International in Papua-Neuguinea stationiert und koordiniert heute die internationalen Projekte des WWF Österreich in Südostasien und im Südpazifik.

Titelbild: Bernt Ruttner

Anlässlich unseres 25-jährigen Bestehens befragten wir langjährige Vereinsmitglieder zur Entwicklung des Vereins und der Biologie in Österreich. Vielen Dank an Dr. Bernt Ruttner, Gründungsmitglied der ABA (vormals VÖBL), für das Interview.

Mit welchen Erwartungen und Hoffnungen sind Sie vor 25 Jahren der Austrian Biologist Association (ABA) beigetreten?

Die ABA wurde als VÖBL, als Vereinigung Österreichischer Biologielehrer, von den Landes­arbeits­gemeinschaftsleitern der AHS gegründet. Gedacht war, einen Biologielehrer-Verein zu schaffen, der – analog zu den Vereinen der Chemie- oder der Geographielehrer – außerhalb des Ministeriums und der Landesschulräte Informationen und Fortbildungen organisieren kann. Im Gegensatz zu den anderen Vereinen fehlten uns aber zahlungskräftige Sponsoren. Landwirtschaftskammern oder Pharmafirmen trauten den Biologielehrern nicht so richtig über den Weg. Bei Chemie und Geographie waren die wirtschaftlichen Interessen klar, bei Biologie nicht. Außerdem erlebte die politische Partei der Grünen ihren ersten Aufschwung und irgendwie nahm man an, dass Biologielehrer automatisch Grüne sein müssten. Dennoch wurde der Verein gegründet und gleich auch das Konzept einer informativen Zeitschrift erarbeitet, an der sich jede interessierte Biologielehrkraft beteiligen konnte. Sie hieß VÖBL und wandelte sich im Laufe der Zeit ins „bioskop“.

Zudem wollte die ABA gegenüber dem Ministerium eine weisungs­unabhängige Vertretung erreichen und sich aktiv an der Lehrplan-Diskussion beteiligen beziehungs­weise die Stundentafel für die Biologie ändern – Stichwort: 7.-Klasse-Loch. Auch die Ausweitung des Vereines auf andere Schulformen wie zum Beispiel den Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) wurde angestrebt, um eine Vertretung aller Biologielehrer zu erreichen. Das gelang auch, allerdings schlug sich diese Erweiterung nicht unbedingt in den Mitgliederzahlen zu Buche, wie erhofft.

Enttäuscht waren wir vom Ministerium, weil nie ein maß­geblicher Vertreter (Vorstandsmitglied, Präsident) in die Lehrplankommission eingeladen wurde und auch das Schließen der 7.-Klassler-Lücke wurde leider nicht erreicht. Allerdings konnten wir im schulautonomen Bereich Modelle erstellen, wo dieses Vorhaben gelang.

Welches Resümee ziehen Sie nach 25 Jahren?

Die VÖBL beziehungsweise die ABA haben eine lange Entwicklung hinter sich. Der erste Schritt vom reinen Biologielehrer-Verein weg gelang mit dem Andocken an die EU. Die ABA vertritt damit die biologischen Interessen EU-weit. Die Öffnung für alle Biologen war der nächste Schritt. Schon der zweite Präsident war keine Lehrkraft. Zunehmend kristallisierte sich heraus, dass die ABA eine Vertretung aller in biologischen Fachbereichen Tätigen sein sollte, sprich: Die Biologie in Österreich hat einen Namen. Dazu fand auch die Umbenennung von VÖBL zu ABA statt. Die modernen IT-Technologien machten eine intensive Vernetzung möglich. Mit dem Newsletter wurde ein weiterer Schritt zur Attraktivität erreicht. Dank junger Kräfte im Vorstand konnten auch die Universitäten „erobert“ werden. Es freut mich auch, dass wir jetzt eine sehr engagierte und durchschlagskräftige Präsidentin haben.

Selbst wenn die Mitgliederzahl höher sein könnte – viele „Gründungslehrer“ sind mittlerweile in Pension – ist die ABA für die Biologie in Österreich wichtig und hat eine 25-jährige Erfolgsgeschichte hinter sich. Die Gründung lag seinerzeit sozusagen in der Luft. Der Zulauf vor allem junger Biologen zeigt, dass die Anliegen der ABA noch immer aktuell sind.

Warum braucht es eine Österreichische Biologen-Vereinigung?

Biologische Berufe sind weit gestreut, vom Lehrer über Angestellte in den verschiedenen Verwaltungsebenen (Land, Bund) und bei den Kammern sowie in der Industrie (zum Beispiel Pharma- und Umweltreferenten) und vor allem als Selbstständige. Auch wenn die Wirtschaftskammer die Vertretung der Selbstständigen beansprucht, bin ich mir nicht sicher, ob die ideellen und fachlichen biologischen Ziele bei der Kammer wirklich gut aufgehoben sind. Daher ist die Vernetzung der Biologen Österreichs ein wichtiger Aspekt der ABA. Sie dient einerseits als Stellenbörse, andererseits der Abstimmung untereinander, um über bestimmte aktuelle Themen eine einheitliche Meinung zu repräsentieren.

Wie soll die Österreichische Biologen-Vereinigung diese Ziele ihrer Meinung nach erreichen?

Viele Ziele sind bereits erreicht. Was wir noch besser machen können, ist die Kommunikation mit der medialen Öffentlichkeit via Presseaussendungen oder Pressekonferenzen. Damit die Stimme überall gehört wird. Das würde wahrscheinlich auch einen gewissen Mitglieder-Zulauf mit sich bringen. Allerdings muss ich selbstkritisch dazu anmerken, wir haben dieses Ziel in der Vergangenheit auch nur selten geschafft. Über die Formulierung von Positionspapieren sind wir auch nicht weit hinaus gekommen. Die IT-Generation wird das aber sicher besser machen.

Wen betrachten Sie unter Österreichs Biologen für sich persönlich als die größte Inspiration und warum?

Das ist schwierig zu sagen, da ich die Biologie praktisch mit der „Vatermilch“ aufgesogen habe. Mein Vater war ebenfalls Naturgeschichtelehrer, wie es damals hieß, und Botaniker. Ich lernte also von klein auf Freilandbiologie. Er gründete auch die Landesorganisation der Österreichischen Naturschutzjugend, kurz ÖNJ, in Oberösterreich und vor ein paar Jahren stellte sich heraus, dass er der beste floristische Kenner des Castelfeders war. Das ist ein naturgeschützter Porphyrhügel im Südtiroler Unterland. Dort hielt er im Sommer immer ein ÖNJ-Lager ab. Auch diese Tradition führte ich noch circa 30 Jahre lang weiter. Weiters wurde ich natürlich auch von meinem Doktorvater Heinrich Wagner beeinflusst, der mir mitgab, die Pflanzendecke nicht „einzuschachteln“ sondern als Kontinuum zu betrachten. Eine Sichtweise, die nicht nur für die Pflanzendecke gilt, sondern auch in der Evolution und damit für die  ganze Betrachtungsweise der Biologie wichtig ist.

Mit welchem biologischem Fachbereich beschäftigen Sie sich zurzeit?

Eigentlich interessiert mich noch immer alles und ich versuche von den neuesten Erkenntnissen in allen Fachbereichen etwas mitzubekommen – also Genetik, Humanevolution, Evolution und Systematik und und und … Das geht ganz gut über diverse Newsletter und auch gute Sachbücher. So zum Beispiel jetzt gerade ein Buch über „Künstliche Photosynthese“, das gute und sachliche Argumente in der laufenden Diskussion zu E-Autos oder H-Antrieb liefert.

Im Herbst hielt ich einen Vortrag über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft. Ebenfalls ein spannendes Kapitel, das weit über den bekannten Streit Darwin versus Kirche hinaus geht.

Daneben bemühe ich mich in meinem Heimatort Timelkam die naturwissenschaftliche Abteilung im neuen Heimat- und Archivmuseum einzurichten. Ich halte die Popularisierung der Naturwissenschaften – im besten Sinne – für einen ganz wichtigen Aspekt unserer gesellschaftlichen Entwicklung. In England gibt es dafür sogar einen eigenen Lehrstuhl.

Vielen Dank!

Dr. Bernt Ruttner ist Gründungsmitglied der ABA (vormals VÖBL), AHS-Biologielehrer (in Ruhe), ehem. Landes ARGE-Leiter v. OÖ, ehem. Bundessprecher der ARGE-Leiter, Schulbuchautor, Pflanzensoziologe und Exkursionsleiter.

Titelbild: Auf der Seegrube oberhalb von Innsbruck (Foto: Riccabona)

Sigbert Riccabona und Johannes Kostenzer haben als Umweltanwälte Tirols die Natur stets im Blick gehabt und viel erlebt: von blühenden Projekten und keifenden Bürgermeistern bis hin zu ökologischen Harakiri-Unternehmungen. Im Gespräch mit bioskop erzählen sie, was sich in den letzten Jahrzehnten bezüglich Natur in Tirol getan hat und was noch geschehen muss, damit das Alpenland bleibt, was die Postkartenidylle verspricht.

Abb. 1: Johannes Konstanzer, aktueller Landes­umwelt­anwalt von Tirol.

 „Tirol isch lei oans…“ tönt es bei so manchem Volksmusik­abend und meint damit nicht nur heimatliche Gefühle. Im Hintergrund schwingt sie mit, die Postkarten­romantik als „Sehn­suchtsort im Herzen der Alpen“, wie es die Tirol Werbung nennt: Mehr hoch als weit, mit viel Tradition, Sportsgeist und vor allem Natur pur verteilt auf rund 12.640 km2. Wie sehr aber um diese (noch) intakte Natur gerungen werden muss bei all dem Fortschritt und der Globalisierung – vor allem in den letzten 25 Jahren – davon kann die Umwelt­anwaltschaft ebenfalls ein Lied singen.

So treffen dort, mitten in Innsbruck, unlängst zwei aufeinander: Der eine bärtig, mit freundlichen Augen, Jahrgang 1942, der andere etwas jünger, dynamisch in seinen Bewegungen, mit gewinnendem Lächeln. Es handelt sich um den ehemaligen Landesumweltanwalt Sigbert Riccabona und den aktuellen Landesumweltanwalt Johannes Kostenzer. Noch ehe das Gespräch offiziell beginnt, stehen beide im regen Austausch: über früher, über heute – aber was hat sich verändert?

Mehr Achtsamkeit, mehr Technikwahn

Abb. 2: Sigbert Riccabona, ehemaliger Tiroler Landesumweltanwalt. Blick vom Ende der Tiroler Alpen hinaus auf entspanntes, flaches, mitunter sanft-hügeliges Alpenvorland bei Pfronten.

Da ist zum Beispiel das Verständnis der Bevölkerung für die Natur. Grüne Wiesen entlang der Autobahn seien toll, erklärt Riccabona, „wenn ich aber durch diese Wiesen spaziere, ist das ein ganz anderes Erlebnis und dieses fühlende sich in der Natur bewegen, da gibt es heute Impulse, die es früher nicht gegeben hat. Da war das selbstverständlich.“ Grund für diese neue Achtsamkeit mögen auch die technischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sein. Sie stehen dem Naturerlebnis antagonistisch gegenüber. Gibt das Smartphone beim Wandern nämlich den Geist auf, sei bei vielen Kindern Trübsal blasen statt Natur genießen angesagt, weiß Riccabona. Selbiges gilt wohl auch für manchen Erwachsenen. Die Natur sei dann nur mehr „nette Spielerei“. Der momentane Trend zu mehr Achtsamkeit soll dem entgegenwirken und die Natur wieder in den Fokus rücken.

Gelingen tut das nicht immer. Das Problem bestehe auch darin, dass sich der Mensch seit etwa 30 Jahren immer weniger als Teil der Natur begreift, ist Kostenzer überzeugt. Damit reduziere sich das empathische Miteinander auf ein wirtschaftliches, das sich groteskerweise aber trotzdem wieder der Naturbilder bedient. Warum? „Weil Dinge wie ein Sonnenaufgang am Berg trotzdem jeden Menschen berühren“, stellt Kostenzer klar, „und da würde ich schon erwarten, dass man dem auch Wertschätzung zukommen lässt.“

Natur als Cashcow und Kulisse

Über Definition und Ausdruck dieser Wertschätzung ist man sich aber bisweilen wohl nicht ganz einig. Im Tourismus etwa wird das Grün kombiniert mit steilem Fels sehr wohl geschätzt, aber mehr als Cashcow, denn um seiner selbst wie es scheint. Ein Beispiel dafür stellt der Trend zur Megareisegruppe dar. Eine hat vergangenen Frühling üppig „Selfie bestickt“ unter anderem Schweizer Naturjuwele wie den Dreitausender Titlis erklommen: 12.000 Chinesen und Chinesinnen, verteilt auf drei Wochen. Ähnlich dürfte das Szenario im 700-Seelenort Hallstatt im Salzkammergut sein, mit über 19.000 Bussen jährlich. Die Kassen klingeln – die Anrainer scheinen nur murrende Statisten in diesem „Freilichtmuseum“, die Natur reine Kulisse.

So arg ist es in Tirol noch nicht. Dennoch scheint das Interesse an Wachstum im Tourismus und damit Gewinn auch hier präsent, besonders im Winter. Nicht umsonst pumpen Investoren derzeit 180 Millionen Euro in ein Bauprojekt in Kitzbühel, wie der SPIEGEL neulich berichtete. Ein Nobelresort am Wasenmoos-Gebiet soll es werden, wo es offenbar kaum Plastik geben wird, aber dafür Rodung, 500 neue Betten nebst einem Schutzgebiet und einen Elektro-Porsche für jeden, der eines der dreizehn millionenschweren Chalets kauft.

Das hat Geschichte, wie Riccabona weiß. Schon in der Zwischenkriegszeit habe das bäuerliche Tirol mit dem Tourismus angefangen, „da waren die skifahrenden Städter für die Bauern allerdings noch Spinner.“ Nach dem zweiten Weltkrieg sei die Landwirtschaft dann versorgungstechnisch noch wichtiger geworden: 90 % des Grund und Bodens habe den Bauern gehört, die zunehmend in die Politik drängten. Man entdeckte erneut, dass sich Tourismus auszahlen könnte. Pragmatisch fällte man Bäume und baute Häuser – „Hotels, die alle ausschauen wie aufgeblasene Bauernhöfe“, bemerkt Riccabona, „die Geburtsstunde des bäuerlichen Kitschs.“ Ab da musste es immer schneller gehen. „Wenn ein Seilbahnunternehmer damals eine Seilbahn bauen wollte, habe ich gesagt: Schaut‘s wenigstens auf eine ordentliche Architektur“, erzählt Riccabona, da kam‘s postwendend zurück: „Hört‘s ja nicht auf den, die Architektur kostet nur Zeit und Geld.“

Abb. 3: Beschneiungsanlage Sölden. Erdbewegungen, Teich und Leitungen im Gletschervorfeld; Foto: S. Riccabona

Naturschutzprobleme als Raumordnungsprobleme

Heutzutage mag man im touristischen Tirol stilvoller bauen. Der Anfang bleibe laut Riccabona aber der gleiche: Ein neues Produkt, dass in die Zeit passt, nachhaltig wirkt, aber am Ende zu einem rein technischen Projekt avanciert, ohne soziale Betrachtung. Das betrifft auch Innsbrucks Beschaffenheit. Der ehemalige Umweltanwalt sieht das kritisch: „Vielleicht gibt‘s jetzt eine Seilbahn mitten in der Stadt, um die Mobilität zu verbessern, vielleicht geht es ums Energiesparen, aber nicht darum, dass man beim Bauen ein Miteinander sucht und durchmischte Gebiete erhält mit Lebensqualität.“

Das Miteinander insgesamt in Tirol gestaltet sich durch den hohen Zerschneidungsgrad der Täler tatsächlich schwierig. Schuld daran sind auch die größeren Bau- und Pistenprojekte der letzten Jahre. Manche Zusammenschließungen von Skigebieten wie etwa Saalbach-Fieberbrunn seien relativ harmlos, meint Kostenzer, andere wiederum wie etwa das aktuelle Projekt Kappl-St. Anton durchschneide wichtige Korridore und Rückzugsräume für Tiere. Mit der Raumordnung seien auch derartige Überlegungen ins Hintertreffen geraten. „Es gibt zwar eine Wohlmeinung dazu, dass es gescheit wäre, solche Dinge in die Planung einzubeziehen. De facto passiert in die Richtung aber wenig bis nichts. Man müsste überörtlich Überlegungen anstellen – nicht nur für Tiere, sondern auch für den Mensch“, betont Kostenzer. So seien auch neue Siedlungserschließungen oft nur auf Autos ausgerichtet: „Da gibt`s dann Schleifen, wo man mit dem Auto super reinfahren kann, aber wenn einer zur Kirche gehen will, dann muss der das Auto nehmen oder einen riesen Umweg gehen. Das sind Kleinigkeiten, aber da ist viel falsch gelaufen. 70 % der Naturschutzprobleme sind heute eigentlich Raumordnungsprobleme.“

Das kommt auch vom Inseldenken, ergänzt Riccabona. Man fokussiere oft nur einen Aspekt. Neben dem Naturschutz gehe es in wachsenden Ballungsräumen wie dem Inntal auch darum, eine neue Kulturlandschaft zu finden und dafür brauche es zusätzlich gezielte Landschaftsplanung:

„Wenn man die Gewässer in den Vordergrund stellen würde, hätte man eine Multifunktionalität: Naherholungsräume, Überflutungsräume, aber auch Übergangszonen. Ganzheitlich gedacht wäre das das Um und Auf, und nicht, dass jede Gemeinde der anderen Gemeinde die Hochhäuser aufsetzt und nur an sich denkt. Das ist ein großes Manko.“

Sigbert Riccabona

Mit der Idee, Korridore und Übergangszonen zu schaffen, sei man übrigens schon bis zum Landtag gegangen – dort fand man die Idee gut, aber die Umsetzung habe man sich nicht vorstellen können. Man wolle bei etwaigen Unfällen in diesen Bereichen nicht haften, habe es da geheißen.

Abb. 4: Rückbau. Renaturierung am Inn in der Imsterau; Foto: Riccabona

Die Sache mit der Artenvielfalt

Trotzdem gab bzw. gibt es in Tirol weiterhin Bemühungen für mehr Biodiversität und geschützte Übergangsorte im Siedlungsraum. „Blütenreich“ nennt sich zum Beispiel ein Projekt der Umweltanwaltschaft, welches seit September 2015 in mittlerweile fast 30 Tiroler Gemeinden erfolgreich läuft.  Dabei werden naturferne Flächen wie Begleitstreifen von Geh- oder Radwegen möglichst naturnahe gestaltet, um Verbindungswege, Lebensräume und Rückzugsorte für (bedrohte) Tiere und Pflanzen zu schaffen. „Richtig behandelt wird ein schmaler Streifen zum Biotop,“ erklärt Kostenzer. Es geht ihm aber nicht nur um solche Flächen. Tirol zeichnet die Höhenerstreckung aus, dadurch sind nur 12% des Bundeslandes dauerhaft besiedelbare Fläche. So gebe es zwar wesentlich mehr Tier- und Pflanzenarten als in homogenem Gelände, gleichzeitig aber „ist es weniger auffällig, wenn eine Vogelart nach der anderen verschwindet. Wir erleben es gerade ganz akut, dass die Artenvielfalt, die wir gewohnt sind und als Kinder selbstverständlich gefunden haben, die wir in den letzten 20 Jahren mit Monitoring und Schutzmaßnahmen versucht haben zu erhalten, trotzdem abnimmt. Das ist ein Problem, mit dem man sich auseinandersetzen muss.“

Dialoge von Klimanotstand bis Wasserkraft

Der Klimawandel erschwert die Situation zusätzlich. Da braucht es Fingerspitzengefühl im Dialog. Riccabona kennt das noch von seiner Zeit als Umweltanwalt, wo ihm ein schimpfender Bürgermeister einst die Augen öffnete. „Auf scharfe Angriffe scharf zurückreden bringt nichts“, hat er damals gelernt, „man sollte lieber fragen: Warum hat der eine andere Meinung…“  Nachhaltigkeit sei eben auch ein soziales Projekt, wo die Zivilgesellschaft  eingebunden gehöre. Man müsse erkennen, dass das längere Prozesse sind und da brauche es Leute, die das begreifen.

In Innsbruck gibt es mit der jetzigen Grünen Stadtregierung, die heuer auch den Klimanotstand ausgerufen hat, durchaus guten Willen. Nur das Land müsse insgesamt noch nachziehen, meint Kostenzer:

„Wenn ich mir anschaue, wo und wie überall gebaut werden darf, bis hinauf zu den Bergstationen und Skierschließungen, die eine Dimension haben, größer wie ein Museum für moderne Kunst im Tal, quasi Shopping-Malls am Berg – und das alles ohne irgendeine raumordnerische Prüfung, das versteh‘ ich einfach nicht und das geht nach wie vor.“

Johannes Konstenzer

Ähnliches gilt für den Ausbau der Energieversorgung, Stichwort Wasserkraft. „Ein energieautarkes Haus ist gar nicht so futuristisch, aber für die TIWAG wäre das ein Horror, wenn jeder sich selbst versorgt. Da wird ziemlich geschwiegen oder man hat Angst davor“, mutmaßt Riccabona. Schon bei seinen damaligen Verhandlungen mit dem Landeshauptmann habe es geheißen, man müsse zwecks Geld den Strom ins Ausland verkaufen. Dagegenreden sei schwierig gewesen, auch dank einer Tiroler Eigenheit:

Egal welch gute Gespräche man in der Kaffeepause geführt habe, in der Verhandlung habe sich plötzlich alles dem Grundsatz „Zum Wohle des Landes“ gebeugt. Wer nicht dafür sei, kritisiere das Land. „Ein freier Dialog war damals nie möglich“, räumt Riccabona ein.

Kostenzer setzt heute eher auf fachliche Kompetenz: Er legt unaufgefordert eigene Daten zu bestimmten Sachverhalten vor und macht mit seinem Team gebetsmühlenartig auf die Problematiken aufmerksam. So finde man langsam immer mehr Gehör und es habe sich auch einiges geändert. Beispielsweise hat Kostenzer vor 25 Jahren als Sachverständiger für Wasserkraftanlagen noch miterlebt, wie zahlreiche neue Anlagen ohne ausreichende Berücksichtigung ökologischer Aspekte durch das Land genehmigt wurden – das war modern. Gewusst wo, gewusst wie sei mittlerweile nicht nur der Ansatz der Umweltanwaltschaft, sondern auch der Behörde und vieler Planungsbüros.

Trotzdem, er halte sich nicht mit Überzeugungsarbeit auf: „Davon habe ich mich schon lang verabschiedet. Das Beste, was man erreichen kann, ist dem anderen verständlich zu machen, warum man selber so denkt”, sagt Konstenzer, „wenn das einen Nachdenkprozess auslöst, ist das für mich schon ein Erfolg und ändert oft auch die Situation.“

Künftig mehr Weitblick statt Tunnelblick

Vieles konnte in den letzten Jahrzehnten verbessert werden, manches ist noch in der Pipeline. Grundsätzlich aber müsse für die Zukunft auch im Umweltverständnis umgedacht werden, meint Riccabona. Es gehe um eine neue Strategie. Zurzeit habe noch jeder seinen Tunnelblick auf den eigenen Bereich gerichtet: die Wasserkraft auf ihre Pläne, der Tourismus auf seine und die Biologie auf ganz eigene Interessen. Inseldenken eben. Dabei ließe sich oft eine Verbindung herstellen.

Tatsächlich hieß es in einem Zeitungsartikel unlängst, Tourismus und Umweltanwaltschaft seien in gewisser Hinsicht eher „Zwillinge als Gegner“. Das stimme zumindest in der Hinsicht, als eine „attraktive Naturlandschaft genau das ist, was auch der Gast möchte“, präzisiert Kostenzer. Gleichzeitig steige dadurch unsere Lebensqualität. Die Balance macht`s, zudem eine gewisse Vielfalt und Flexibilität. „Es darf nur alles nicht allzu sehr beschleunigt werden“, gibt Riccabona zu bedenken, „es muss wachsen können, dass es auch gelebt werden kann.“ Bei der Jugend habe er da bereits interessante Denkanstöße bemerkt, etwa bei Architekturstudenten, die versuchen ganzheitliche Projekte mit Weitblick zu gestalten oder jungen Künstlern, die sich der Vergangenheit bedienen, um in der Gegenwart Neues für die Zukunft zu schaffen. Dafür müsse längerfristig aber auch ein gesünderes Verhältnis zwischen Tourismus, einheimischer Bevölkerung, Landschaft und Bewirtschaftung erreicht werden, ist Kostenzer überzeugt. Denn letztendlich isch Tirol eben net lei oans, es ist Vieles und all das müsse in Zukunft wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.

Sigbert Riccabona

ist 1942 in Innsbruck geboren und hat Kulturtechnik und Wasserwirtschaft sowie Raumplanung und Raumordnung in Wien studiert. Als Jungingenieur sollte er durch Entwässerungen und Flussbegradigungen das „10. Bundesland“ Österreichs miterschaffen, erkannte aber die fatalen Auswirkungen und rief später den ersten Förderschlüssel zum Rückbau von Gewässern ins Leben. Von 1990 bis 2007 wurde er zum ersten Landesumweltanwalt Tirols und behielt neben den Fakten fortan auch die ästhetische und emotionale Landschaftskomponente im Blick. Riccabona lebt heute in Innsbruck.

Johannes Kostenzer

ist Kufsteiner, Jahrgang 1965, Biologe und seit 2008 Landesumweltanwalt von Tirol. Sein Interesse an unversehrter Natur war immer schon groß und dieses Interesse möchte er auch bei anderen wecken. So ist Kostenzer unter anderem auch der Initiator des jährlich stattfindenden, international bekannten Nature (Film) Festivals in Innsbruck. In seiner Freizeit beschäftigt er sich gern mit Kunst bzw. Architektur und paddelt auf europäischen Flüssen oder Bächen. Nachdenken kann er aber am besten im Gehen, am liebsten über mehrere Tage hinweg, wie er sagt. Kostenzer hat zwei Kindern und lebt in Innsbruck.

Tiroler Umweltanwaltschaft: http://www.tiroler-umweltanwaltschaft.gv.at/

Titelbild: Julie-Kolibrie auf Pixabay

Anlässlich unseres 25-jährigen Bestehens befragten wir langjährige Vereinsmitglieder zur Entwicklung des Vereins und der Biologie in Österreich. Vielen Dank an Dr. Günter Krewedl für das Interview!

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Titelbild: Glühwürmchen. Foto: Stefan Ineichen, www.gluehwuermchen.ch

Glühwürmchen sind ein gutes Zeichen für natürliche Lebensräume; sie sind Nützlinge, die vor allem unliebsame Schnecken vom Garten fernhalten und erfreuen viele Menschen mit ihrem Leuchten. Die Umweltberatung hat ein Beobachtungsprojekt gestartet. Mitarbeiten kann jede und jeder: Jede Sichtung von Glühwürmchen im Großraum Wien kann einfach per Mail oder telefonisch gemeldet werden.

Glühwürmchen sind Indikatoren für gut strukturierte, naturnahe Lebensräume. Eine Voraussetzung dafür, dass die Lebensräume der Glühwürmchen erhalten bleiben, ist naturnahes Gärtnern – also keine Pestizide einzusetzen, bei der Pflanzenauswahl auf die Vielfalt zu achten und auch Wildpflanzen wachsen zu lassen. Wenn dann noch die künstliche Gartenbeleuchtung auf ein Minimum reduziert wird, umso besser!

Romantisch und nützlich

In Österreich gibt es drei Arten von Glühwürmchen (siehe Infobox). Eines haben sie alle gemeinsam: Sie erzeugen in ihrem Körper durch Biolumineszenz kaltes Licht in den Leuchtzellen an ihrem hinteren Bauchende. Romantisch finden das Glühen der Glühwürmchen, die eigentlich zur Ordnung der Coleoptera, also zu den Käfern gehören, nicht nur Menschen: Das Leuchten dient dazu, dass Männchen und Weibchen in der Paarungszeit zueinanderfinden. Glühwürmchen erfreuen nicht nur unser Gemüt, sie sind auch nützlich: Glühwürmchenlarven vertilgen alle Arten von Schnecken. Die Opfer werden mit mehreren Giftbissen überwältigt, oft meterweit bis zu einem geschützten Fressplatz geschleppt und dort in Ruhe verspeist.

Glühwürmchen-Hotspots vom Prater bis zum Maurer Berg

DIE UMWELTBERATUNG erhebt Glühwürmchenvorkommen in Wien. BeobachterInnen können unter der Hotline 01 803 32 32 anrufen und den UmweltberaterInnen mitteilen, wo sie Glühwürmchen entdeckt haben. Viele Glühwürmchen leuchten an bekannten Ausflugszielen. Romantische Plätze an lauen Sommerabenden sind zum Beispiel Prater, Dehnepark, Gspöttgraben und Maurer Berg.

Glühwürmchenstandorte

Eine Liste sämtlicher Glühwürmchenstandorte, die bei DIE UMWELTBERATUNG gemeldet wurden, ist auf www.umweltberatung.at/gluehwuermchen zu finden. Meldungen von Glühwürmchenstandorten nimmt DIE UMWELTBERATUNG an ihrer Hotline entgegen: Tel. 01 803 32 32, service@umweltberatung.at

Infoblatt „Glühwürmchen“

Informationen über die Lebensweise der Glühwürmchen, welche Arten in Österreich vorkommen und wodurch sie im Garten gefördert werden, bietet DIE UMWELTBERATUNG im Infoblatt „Glühwürmchen“, das kostenlos heruntergeladen werden kann: www.umweltberatung.at/gluehwuermchen-das-zauberhafte-funkeln-im-dunkeln

In Österreich findet man vorwiegend drei Arten von Glühwürmchen vor:

Lampyris noctiluca – der Große Leuchtkäfer: Hier leuchten nur die Weibchen, die auf Halmen sitzend auf die Männchen warten. Die Larven ernähren sich unter anderem von Nacktschnecken. Lamprohiza splendidula – der Kleine Leuchtkäfer: Die Männchen fliegen leuchtend durch die Nacht; die Weibchen sitzen – ebenfalls leuchtend – an Pflanzen. Phosphaenus hemipterus – der Kurzflügel-Leuchtkäfer: Leuchtet relativ wenig und bleibt in Bodennähe.Weltweit gehören zur Familie der Leuchtkäfer (Lampyridae) rund 2.000 Arten. Wer mehr über die Klassifikation der Lampyridae erfahren möchte, findet auf Fauna-EU mehr Infos.

Links

https://fauna-eu.org/cdm_dataportal/taxon/613a87e4-253a-4834-bf5e-1f07d7dae694
www.umweltberatung.at/gluehwuermchen