Der Bioinformatiker Dr. Günter Klambauer ist in Gallneukirchen in Oberösterreich aufgewachsen und im Gymnasium Petrinum zur Schule gegangen. Anschließend hat er zuerst in Wien Biologie und Mathematik studiert und dann Bioinformatik in Linz. Heute arbeitet er als Professor an der Johannes Kepler Universität in Linz am Institut für Machine Learning. Sein Fachgebiet ist die Künstliche Intelligenz. Was begeistert ihn an der Forschung und was ist eigentlich eine Künstliche Intelligenz?

Dieses Interview ist Teil des Podcasts “am Puls Biologie” – einer Kooperation des Österreichischen Bundesverlags öbv und der ABA. Der Podcast beleuchtet den Forschungsalltag von Biologinnen und Biologen. Die Themen sind abgestimmt auf den Biologie-Lehrplan der Oberstufe. Alle Folgen werden als Unterrichtsmaterial zur Schulbuchreihe “am Puls Biologie” zur Verfügung gestellt.
Weitere Interviews werden laufend ergänzt. Die bisher veröffentlichten Folgen können hier nachgehört werden. Du findest uns auch auf Spotify!

Zum Begriff Bioinformatik: Gibt es da eine allgemeine Definition? Ich stelle mir das vor wie eine Mischung zwischen Biologie und Informatik.

Klambauer: Das ist eine gute Intuition. Informatik ist eine eigene Forschungsrichtung, bei der man versucht, den Computer für die Analyse von biologischen Daten einzusetzen, also überall dort, wo es biologische Daten gibt – es gibt ja mittlerweile sehr große Datenmengen, z. B. in der Molekularbiologie. Wenn man den Computer einsetzen muss, um diese Daten zu analysieren, dann spricht man von dem Fachgebiet Bioinformatik.

Mir gefällt, dass es wirklich jeden Tag Herausforderungen gibt und dass ich daran arbeiten kann, das Leben für Menschen zu verbessern.
Günter Klambauer

Und innerhalb der Bioinformatik ist dein Spezialgebiet die Künstliche Intelligenz, abgekürzt KI. Den Begriff hört man sehr oft. Was versteht man darunter und was ist der Unterschied zu einer natürlichen Intelligenz?

Klambauer: Die eine „KI“ gibt es gar nicht. KI ist ein Überbegriff für eine ganze Reihe von Algorithmen und Rechenregeln, die man in einen Computer bringt. Das sind Programme, die bestimmte Aufgaben erfüllen. Und als künstliche Intelligenz bezeichnet man eben solche Computerprogramme, die sehr komplexe Aufgaben erfüllen, für die man so etwas wie Intelligenz braucht oder die eigentlich dem Menschen einmal vorbehalten waren. Und deswegen nennt man das jetzt Künstliche Intelligenz zum Unterschied von der natürlichen Intelligenz des Menschen. Man darf sich nicht vorstellen, dass eine KI alles kann, reden kann, etwas steuern kann, sondern das sind immer ganz eigene Systeme. Eine KI kann ein bestimmtes Muster in biologischen Daten erkennen, eine andere KI kann ein Röntgenbild anschauen, ob irgendwelche Brüche vorliegen. Der Überbegriff KI steht für eine ganze Reihe von einzelnen Rechenregeln, die man in verschiedenen Gebieten einsetzen kann. Und mein Spezialgebiet sind KIs in der Molekularbiologie und in den Lebenswissenschaften.

In einem deiner Projekte hast du dich mit der Struktur von Proteinen beschäftigt. Das finde ich besonders spannend, denn eines der sogenannten Basiskonzepte der Biologie, die man in der Schule lernt, besagt, dass Struktur und Funktion immer irgendwie zusammenhängen. Die Proteinstruktur ist ein klassisches Beispiel für so einen Zusammenhang.

Klambauer: Das ist eigentlich das perfekte Beispiel und auch extrem aktuell. 2021 war der wissenschaftliche Durchbruch eine KI namens Alpha Fold, die sich genau mit der Struktur und Funktion von Proteinen beschäftigt. Was macht diese KI? Dazu muss man zuerst vielleicht kurz erklären: Proteine sind die zentralen Funktionseinheiten, die fast alle Funktionen im menschlichen Körper und in allen anderen Organismen erfüllen. Proteine bestehen aus einer Kette von Aminosäuren. Insgesamt gibt es 20 verschiedene. Durch die Abfolge von diesen zwanzig verschiedenen Aminosäuren bekommen wir eine Kette. Die bleibt nicht immer in dieser Kettenform, sondern faltet sich in 3D. Und aufgrund von der Faltung dieser 3D-Struktur kann man sehr stark auf die Funktion rückschließen. Zum Beispiel falten sich manche Proteine so, dass in der Mitte ein Tunnel entsteht. Das sind oft Proteine, die irgendwelche Stoffe transportieren. Und was macht jetzt Alpha Fold? Alpha Fold nimmt als Eingabe diese Primärstruktur, also nur die Abfolge der Aminosäuren und kann dann schon vorhersagen, wie sich das Protein in 3D falten wird, also wie es in 3D aussieht.

Was mich jetzt auch interessieren würde, ist dein Arbeitsplatz. Wie läuft das ab, wenn du neue Algorithmen entwickelst? Mit wem arbeitest du zusammen? Ich nehme an, du arbeitest ja nicht allein.

Klambauer: Ja, genau. Im Prinzip könnte man sagen, ich habe einen ganz normalen Bürojob. Vielleicht ähnlich wie bei Softwareentwickler*innen, aber es ist ein bisschen mehr. Ich habe ein Team von zehn bis zwölf Leuten. Wir treffen uns regelmäßig im Büro und tauschen uns aus über neue Experimente, Ergebnisse und neue Ideen. Es ist ein anspruchsvoller Job. Ich habe sehr lange Tage und muss auch viele organisatorische Aufgaben erledigen. Aber insgesamt kann man sich das eigentlich recht einfach als Bürojob vorstellen, wo man zusammen mit einem Team an bestimmten Aufgaben arbeitet.

Was gefällt dir am besten an deinem Beruf in der Forschung?

Klambauer: Mir gefällt am besten, dass es wirklich jeden Tag Herausforderungen gibt und dass ich daran arbeiten kann, das Leben für Menschen zu verbessern. Wenn ich es schaffe, neue Methoden zu entwickeln, um zum Beispiel sicherere oder bessere Medikamente zu entwickeln, dann wird sich mittelfristig oder auf lange Frist das Leben der Menschen verbessern. Und das ist ein schönes Ziel. Aber auch die ganze Umgebung: mit anderen Forschern arbeiten, diskutieren, Ideen zu entwickeln, auch Experimente durchzuführen. Das Ganze macht mir Spaß, das ist herausfordernd, ist auch spannend. Manchmal gibt es auch Rückschläge, aber manchmal gibt es auch große Erfolge. Insgesamt der ganze Überbau, dass man versucht, die Forschung voranzutreiben und neue Erkenntnisse zu gewinnen, das ist jeden Tag für mich eine schöne Motivation in die Arbeit zu gehen.

Jetzt zu unserer Science-Fiction-Frage: Wir nehmen an, die Menschheit schafft es, den Mars zu besiedeln. Warum glaubst du, benötigen wir für die Errichtung einer neuen Mars-Zivilisation unbedingt auch Bioinformatiker*innen?

Klambauer: Ich glaube, wir sollten den Mars gar nicht besiedeln. Es kostet viel zu viel Energie dort Sachen hinzubringen. Und wir haben schon einen Planeten, wo wir eigentlich einiges zu reparieren haben und wo wir versuchen sollten energieeffizient zu sein. Jetzt einen zweiten Planeten bewohnbar zu machen und dort Material und so weiter hinzuschaffen, das ist viel zu energieaufwendig.

Wenn wir es dennoch versuchen wollten, dann brauchen wir ganz dringend Bioinformatiker*innen und auch die KIs, weil dort auf dem Mars, da müssen zuerst Roboter alles vorbereiten, damit wir danach kommen können. Diese Roboter können wir von der Erde aus schlecht steuern, weil die Signale, die wir schicken, zehn Minuten brauchen. Das heißt diese Roboter könnten nur sehr langsam reagieren. Wenn wir die Marsroboter mit sehr guten KIs ausstatten, damit sie autonom arbeiten können und auf Veränderungen und Probleme schnell reagieren können,  dann können wir es vielleicht schaffen, dass die Roboter den Mars so vorbereiten, dass wir dann dort leben können. Das heißt Wasser aufbereiten, bepflanzen, Vegetation aufbauen. Aber es ist eine extrem schwierige Aufgabe und da braucht man sehr gute KIs, die es momentan noch gar nicht gibt und vielleicht auch in 20 Jahren noch nicht gibt.

Na gut. Welche Tipps hast du für Schüler*innen, die sich nun auch mit Künstlichen Intelligenzen beschäftigen oder vielleicht sogar Bioinformatik studieren möchten?

Klambauer: Ich kann nur empfehlen, auch in der Schule immer neugierig zu sein und zuzuhören. Wenn ich schon sowieso in der Klasse sitzen muss, dann kann ich auch gleich zuhören. Also in Physik, Biologie, Chemie alles aufsaugen. Auch in Mathematik, Informatik – alles aufzusaugen. So schön, wie das Wissen in der Schule aufbereitet wird und so viel Zeit, wie sich hier eine Person für euch nimmt, um euch etwas beizubringen, das wird nie wieder so sein. Daher kann ich nur empfehlen: Nützt die Zeit, die ihr in der Klasse verbringt, fragt die Lehrer*innen viel und lasst euch unterstützen.

Wie sieht nach dem Bioinformatikstudium der Arbeitsmarkt aus? Gibt es Job-Möglichkeiten auch außerhalb der Forschung?

Klambauer: Ja, der Arbeitsmarkt sieht sehr gut aus. Es geht leider sogar so weit, dass Doktorand*innen meiner Forschungsgruppe direkt abgeworben werden. Firmen oder Unternehmen kontaktieren meine Doktorand*innen und versuchen, sie von der Uni wegzulocken. Das heißt, die Abgänger*innen unserer Studiengänge Bioinformatik oder Künstliche Intelligenz finden sehr leicht und sehr gute Jobs in Österreich, aber auch international.

Hinter jeder kleinen wissenschaftlichen Erkenntnis steckt ein riesiger Aufwand!

Noch eine allgemeine Frage: Gibt es irgendeine Erkenntnis aus deinem Forschungsgebiet, von der du dir wünscht, dass sie ganz allgemein besser bekannt wäre?

Klambauer: Es gibt keine spezielle Erkenntnis, die ich mir wünsche. Aber ich würde mir wünschen, dass das prinzipielle Verständnis in der Bevölkerung und in der Politik besser ist von dem, was Wissenschafter*innen machen und was es heißt, eine wissenschaftliche Erkenntnis zu haben. Wenn zum Beispiel Wissenschafter*innen herausgefunden haben, dass ein Virus irgendwo eine kleine Mutation hat und dass das vielleicht gefährlich sein könnte und das auch öffentlich sagt, dann steckt ein riesiger Aufwand dahinter. Da stecken Jahrzehnte an Ausbildung dahinter und ein Forschungsteam, das sich selbst immer wieder hinterfragt und das auch von anderen kritisiert worden ist. Und um diese kleine Erkenntnis zu gewinnen und der Menschheit mitzuteilen, da ist ein riesiger Aufwand dahinter. Das wird oft wenig geschätzt und sehr wenig gesehen. Und dem werden oft einfache Statements ohne experimentelle Basis entgegengesetzt. Da würde ich mir wünschen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in der Bevölkerung mehr Stellenwert hätten.

Vielleicht können wir ja mit unserem Podcast auch ein bisschen dazu beitragen. Abschließend haben wir eine Blitzrunde. Ich beginne ein paar Sätze, die du dann bitte vervollständigst.

  • Wenn ich an meinen eigenen Biologieunterricht denke, dann erinnere ich mich an
    Klambauer: … in Spiritus eingelegte Reptilien.
  • Auf meinem persönlichen Berufsweg hat mich besonders beeinflusst …
    Klambauer: … die Schulzeit.
  • Das sollte in keinem Biologie-Schulbuch fehlen:
    Klambauer: Eine Darstellung einer Zelle.
  • Mein Wunsch an die Politik ist:
    Klambauer: Mehr Anerkennung für wissenschaftliche Erkenntnisse und weniger Anerkennung für Humbug wie Homöopathie.
  • Leute, lernt mehr Biologie, damit …
    Klambauer: … so etwas wie Homöopathie und Esoterik nicht passieren kann.
  • Meine Wochenenden verbringe ich am liebsten …
    Klambauer: … am Neusiedler See oder in den Bergen.

Super, ich danke dir sehr fürs Zeitnehmen!

Klambauer: Danke, gerne!


Das ganze Interview mit Günter Klambauer könnt ihr hier nachhören:

Die Vegetationsökologin Dr. Sabine Rumpf ist am Bodensee aufgewachsen und hat nach der Schule Biologie studiert: in Wien, im norwegischen Bergen und auf Spitzbergen in der Arktis.  Heute ist sie Professorin an der Universität Basel in der Schweiz. Was macht eine Vegetationsökologin? Das und viel mehr erzählt sie uns im Interview.

Dieses Interview ist die erste Folge des Podcasts “am Puls Biologie” – einer Kooperation des Österreichischen Bundesverlags öbv und der ABA. Der Podcast beleuchtet den Forschungsalltag von Biologinnen und Biologen. Die Themen sind abgestimmt auf den Biologie-Lehrplan der Oberstufe. Alle Folgen werden als Unterrichtsmaterial zur Schulbuchreihe “am Puls Biologie” zur Verfügung gestellt.
Weitere Interviews werden laufend ergänzt. Die bisher veröffentlichten Folgen können hier nachgehört werden.

In Norwegen und insbesondere in der Arktis zu studieren, das ist doch eher ungewöhnlich. Wie hat sich das ergeben?

Sabine Rumpf: Ich habe eine Ausschreibung gesehen, dass ein Masterarbeitsthema dort vergeben wird und fand das spannend. Ich habe mich beworben und es hat geklappt!

Danach bin ich auf Spitzbergen geblieben und habe als Biologin und Guide gearbeitet.

Dein Fachgebiet ist die Ökologie. Kannst du uns das bitte ganz allgemein beschreiben? Und was ist dein Spezialgebiet innerhalb der Ökologie?

Sabine Rumpf: In der Ökologie geht es allgemein darum, wie Organismen mit ihrer Umwelt und auch miteinander in Beziehung stehen. Mein Spezialgebiet ist die alpine und arktische Vegetationsökologie.

Ich untersuche hauptsächlich die Auswirkungen von menschlichem Verhalten auf die Verbreitung der europäischen Flora, meist im Laufe des letzten Jahrhunderts. Das Ganze dient dazu, um die Zukunft besser voraussagen zu können.

Wenn du in den Bergen unterwegs bist, hast du wahrscheinlich einen anderen Blick auf die Natur als viele andere Menschen. Worauf achtest du beim Wandern besonders? Bist du immer auf der Suche nach bestimmten Pflanzenarten?

Sabine Rumpf: Als Vegetationsökologin liest man die Landschaft ganz automatisch. Anhand der vorkommenden Arten weiß man zum Beispiel, wie ein Ort genutzt wird, welches Gestein sich unter der Vegetation befindet oder ob im Winter viel oder wenig Schnee liegt. Ich scanne eigentlich immer die Vegetation in den Bergen, aber ich schaue selten auf bestimmte Arten. Mich interessiert vor allem die Komposition aller vorkommenden Arten.

Die Verbreitung von Pflanzenarten hängt ja zum Beispiel von der Seehöhe ab. Man sieht das bei Baumarten in den Bergen. Im Tal ist der Laubwald, der dann beim Aufstieg in einen Nadelwald übergeht. Ist das bei krautigen Pflanzen ähnlich? Und wenn ja, an welchen Faktoren liegt das?

Sabine Rumpf: Ja, das ist auch bei krautigen Pflanzen so. Allgemein haben alle Arten eine ökologische Nische. Das heißt, sie können nur dort vorkommen, wo die Umweltbedingungen auch ihren Bedürfnissen entsprechen. In den Bergen ist die Temperatur wohl der entscheidende Faktor. Es können zum Beispiel nur sehr spezialisierte Arten auf, sagen wir mal, 3000 m gedeihen. Aber das erklärt natürlich nicht, wieso diese hochalpinen Spezialisten nicht auch weiter unten vorkommen. Einer der Hauptgründe dafür ist die Konkurrenz zwischen den Arten. Das heißt, hochalpine Arten sind zwar auf harsche Umweltbedingungen spezialisiert, sie sind aber nicht besonders konkurrenzstark. In tieferen Lagen werden sie daher schlicht von anderen Arten überwuchert.

Wie wirkt sich der Klimawandel auf die Gebirgsvegetation aus?

Sabine Rumpf:  Wie bereits erwähnt, ist die Temperatur limitierend für die Verbreitung von Arten, speziell an den Obergrenzen. Das heißt, wenn es nun wärmer wird, dann verschiebt sich natürlich die Verbreitung aller Arten in höhere Lagen, da dann die Umweltbedingungen dort ihren Bedürfnissen entsprechen. Das kann aber natürlich nicht endlos so weitergehen, weil Berge eine begrenzte Höhe haben.

Was sind deine nächsten Forschungsprojekte? Kannst du uns da schon Pläne verraten?

Sabine Rumpf: Was ich unglaublich spannend finde, sind die zukünftigen Folgen bereits geschehener menschlicher Taten. Zum Beispiel, wie würden sich die Verbreitungsgrenzen von Arten weiterhin verschieben, wenn wir den Klimawandel heute stoppen würden?

Und wie denkst du, würden sie sich verschieben?

Sabine Rumpf: Sie würden sich weiter verschieben, aber in welchem Ausmaß? Das ist einfach komplett unbekannt.

Wie sieht dein Arbeitsplatz oder deine Arbeitsumgebung in einer durchschnittlichen Arbeitswoche aus? Bist du viel draußen unterwegs oder mehr im Büro?

Sabine Rumpf: Das Tollste an meinem Beruf ist eigentlich, dass er unglaublich abwechslungsreich ist. Im Sommer arbeite ich viel draußen und den Rest des Jahres bin ich hauptsächlich drinnen und arbeite viel am Computer. Und während des Semesters verbringe ich natürlich auch viel Zeit mit der Lehre und mit Studierenden.

“Die wichtigste Eigenschaft von Forschenden ist die Neugierde!”
Sabine Rumpf

Welche Fertigkeiten sind für deine tägliche Arbeit am relevantesten, abgesehen vom biologischen Fachwissen?

Sabine Rumpf: Um die Statistik, das Programmieren und auch das Verfassen von Texten kommt man nicht herum. Aber ich glaube eigentlich, die wichtigste Eigenschaft von Forschenden ist die Neugierde, die einen dazu veranlasst, Dinge zu hinterfragen und deren Ursachen und Folgen zu erforschen.

Jetzt wagen wir einen Blick in die Zukunft. Wie denkst du, wird sich dein Forschungsgebiet in den nächsten zehn Jahren verändern? Und wie in den nächsten 30 Jahren?

Sabine Rumpf: Im Moment entwickeln sich die technischen Möglichkeiten unglaublich rasant und dadurch werden immer größere Mengen an immer präziseren Daten zur Verfügung stehen, die man mit immer größeren Rechenkapazitäten noch komplexer analysieren kann. Das heißt, auch die Ökologie wird sich in Richtung Big Data entwickeln. Auf lange Sicht habe ich leider die Befürchtung, dass die technischen Möglichkeiten, die sich entwickeln, die praktische Kenntnis der Natur aus Sicht vieler überflüssig machen könnte. Das heißt überspitzt gesagt: Wieso braucht es noch Artenkenntnis, wenn man die DNA einer Pflanze einfach mit irgendeinem Gerät scannen kann? Damit würde natürlich unglaublich viel wertvolles Wissen über die Ökologie der Arten verloren gehen, die man natürlich nicht hat, wenn man nur weiß, was es für eine Art ist.

Welche Tipps hast du für Schülerinnen oder für Schüler, die sich für dein Fachgebiet interessieren und die vielleicht auch eine Vegetationsökologin oder ein Vegetationsökologe werden wollen?

Sabine Rumpf: Wenn das schon euer Interesse ist, dann seid ihr wahrscheinlich schon begeistert von Pflanzen. Andere Gebiete, die sehr wichtig sind, auch wenn ihr das vielleicht nicht hören wollt, sind Mathematik und Englisch. Sehr wichtig! 🙂

Gibt es irgendeine Erkenntnis aus deinem Forschungsgebiet, von der du dir wünscht, dass sie allgemein besser bekannt wäre?

Sabine Rumpf: Die Belastungsgrenzen unseres Planeten werden in vielen Bereichen bereits von der Menschheit überschritten. Und das heißt, dass selbst wenn wir alle umweltschädlichen Aktivitäten heute stoppen würden, dann hätten unsere bereits vergangenen Taten immer noch Folgen in der Zukunft.

Dann kommen wir jetzt zu unserer Science-Fiction-Frage: Wir nehmen an, die Menschheit schafft es, den Mars zu besiedeln. Warum benötigen wir aus deiner Sicht für die Errichtung einer Zivilisation am Mars unbedingt Vegetationsökolog:innen?

Sabine Rumpf: Wer kann sonst die pflanzliche Fracht eines Raumschiffes Arche Noah festlegen und dann anschließend auch verteilen? Wer will schon auf einer Welt leben, auch wenn sie auf dem Mars ist, die gar keinen Wildwuchs hat?

Zurück zur Erde: Wie sieht hier der Arbeitsmarkt in deinem Fachbereich aus? Gibt es auch außerhalb der Forschung Möglichkeiten für Vegetationsökolog:innen?

Sabine Rumpf: Viele arbeiten im Naturschutz oder in sogenannten Ökobüros. Die entscheiden zum Beispiel, ob ein Bauprojekt genehmigt werden kann oder ob es einen wichtigen Lebensraum zerstören würde.

Abschließend haben wir noch eine Blitzrunde: Ich beginne einige Sätze, die du dann bitte vervollständigst.

  • Wenn ich an meinen eigenen Biologieunterricht denke, dann erinnere ich mich an …
    Sabine Rumpf: … die Füße meines Lehrers, die meist auf dem Pult lagen.
  • Auf meinem persönlichen Berufsweg hat mich besonders beeinflusst …
    Sabine Rumpf: … inspirierende Menschen, die meinen Horizont erweitert haben.
  • Das sollte in keinem Biologie-Schulbuch fehlen:
    Sabine Rumpf: … Begeisterung für die Schönheit und Komplexität der Natur.
  • Mein Wunsch an die Politik ist …
    Sabine Rumpf: … den jungen Menschen zuzuhören. Die Zukunft von jungen Menschen wird mit der Politik von heute gestaltet.
  • Leute, lernt mehr Biologie, damit …
    Sabine Rumpf: … ihr euch der Komplexität des Lebens auf der Erde bewusst werdet.
  • Und die Wochenenden verbringe ich am liebsten …
    Sabine Rumpf: In den Bergen natürlich!

Vielen Dank für das Interview!


Das ganze Interview mit Sabine Rumpf könnt ihr hier nachhören:

Titelbild: Elektronenmikroskopische Aufnahme von Klebsiella pneumoniae; ca. 3 µm lang. (Foto: Janice Carr / CDC – CDC, Atlanta, USA, Wikipedia)

Extrem Frühgeborene haben ein hohes Risiko für Hirnschäden. Wiener Forscher*innen haben Ansatzpunkte für die frühzeitige Behandlung solcher Schäden außerhalb des Gehirns gefunden: Bakterien im Darm der Frühgeborenen spielen dabei eine Schlüsselrolle. Das Forschungsteam fand heraus, dass die Überwucherung des Magen-Darm-Trakts mit Klebsiella-Bakterien mit einem erhöhten Vorkommen bestimmter Immunzellen und der Entwicklung neurologischer Schäden bei frühgeborenen Babys verbunden ist.

Komplexes Zusammenspiel: Die Darm-Immunsystem-Gehirn-Achse

Die frühkindliche Entwicklung des Darms, des Gehirns und des Immunsystems hängen eng zusammen. Die Forschung spricht von einer Darm-Immunsystem-Gehirn-Achse. Dabei kooperieren Bakterien im Darm mit dem Immunsystem, welches die Darmmikroben im Blick behält und passende Reaktionen darauf entwickelt. Mit dem Gehirn steht der Darm wiederum über den Vagusnerv, aber auch vermittelt über das Immunsystem, in Kontakt. “Wir haben untersucht, welche Rolle diese Achse für die Gehirnentwicklung extremer Frühchen spielt”, sagt der Erstautor der Studie David Seki. “Die Mikroorganismen des Darmmikrobioms – das ist eine lebenswichtige Ansammlung hunderter Arten von Bakterien, Pilzen, Viren und anderen Mikroben im Darm – befinden sich bei gesunden Menschen in einem Gleichgewicht. Gerade bei Frühgeborenen, deren Immunsystem und Mikrobiom sich nicht vollständig ausbilden konnten, sind hier aber Verschiebungen wahrscheinlich, die dann auch negative Auswirkungen auf das Gehirn haben können”, erzählt der Mikrobiologe und Immunologe.

Muster im Mikrobiom geben Hinweise auf Hirnschädigungen


“Tatsächlich konnten wir bestimmte Muster im Mikrobiom und in der Immunantwort identifizieren, die eindeutig mit dem Fortschreiten und der Schwere von Hirnverletzungen zusammenhängen”, ergänzt David Berry, Mikrobiologe und Leiter der Forschungsgruppe am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft der Universität Wien, sowie Leiter der Joint Microbiome Facility – einem wissenschaftlichen Verbund zwischen Universität Wien und Medizinischer Universität Wien. “Entscheidend ist nun, dass sich solche Muster oft noch vor den Veränderungen im Gehirn zeigen. Damit öffnet sich ein kritisches Zeitfenster, in dem man Hirnschäden extremer Frühchen vermeiden oder aber eine Verschlimmerung verhindern kann.”

Umfassende Untersuchung der Entwicklung extrem frühgeborener Säuglinge


Ausgangspunkte für die Entwicklung entsprechender Therapien bieten die Biomarker, die das intersiziplinäre Team identifizieren konnte. “Unsere Daten zeigen, dass ein übermäßiges Wachstum des Bakteriums Klebsiella und die damit verbundenen erhöhten γδ-T-Zellwerte Hirnschädigungen offensichtlich verschlimmern können”, erläutert Lukas Wisgrill, Neonatologe an der Abteilung für Neonatalogie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Wien. “Diesen Mustern konnten wir auf die Spur kommen, weil wir für eine sehr spezifische Gruppe von Neugeborenen erstmals detailliert erforscht haben, wie sich das Darmmikrobiom, das Immunsystem und das Gehirn entwickeln und wie sie dabei interagieren”, fügt er hinzu. Die Studie begleitete insgesamt 60 extrem Frühgeborene, die vor der 28. Schwangerschaftswoche und mit einem Gewicht von weniger als 1 Kilogramm geboren wurden, über mehrere Wochen, teilweise Monate. Mit hochmodernen Verfahren analysierten die Forscher*innen das Mikrobiom, Immunzellen, Hirnstrommessungen (z.B. aEEG) und MRT-Aufnahmen des Gehirns der Säuglinge.

Forschung wird in zwei Studien fortgesetzt


Weitere Erhebungen sollen hier auf gleich zwei Ebenen anknüpfen: Die Studie, die als interuniversitäres Clusterprojekt unter der gemeinsamen Leitung von Angelika Berger (Comprehensive Center for Pediatrics, Medizinische Universität Wien) und David Berry (Universität Wien) umgesetzt wurde, ist Startpunkt für ein Forschungsvorhaben, welches das Mikrobiom und seine Bedeutung für die neurologische Entwicklung frühgeborener Kinder noch eingängiger untersuchen wird. Darüber hinaus möchten die Forscher*innen die Kinder der Ausgangsstudie weiterhin begleiten. “Wie sich die motorischen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder entwickeln, zeigt sich letztlich erst über mehrere Jahre hinweg”, erklärt Angelika Berger. “Wir möchten noch besser verstehen, wie sich diese sehr frühe Entwicklung der Darm-Immunsystem-Gehirn-Achse langfristig auswirkt.” Die wichtigsten Kooperationspartner*innen für das Vorhaben sind bereits an Bord: “Die Eltern der Kinder haben uns mit großem Interesse und großer Offenheit in der Studie unterstützt”, erzählt David Seki. “Letztlich konnten wir nur deshalb diese wichtigen Erkenntnisse gewinnen. Dafür sind wir sehr dankbar.”

Abb. 1 Seki et al. haben ein umfassendes Profil der Entwicklung von Mikrobiota, des Immunsystems, sowie der Neurophysiologie bei Frühgeborenen erstellt. Ihre Forschung verknüpfte die Etablierung des Mikrobioms im frühen Leben mit immunologischer und neurologischer Entwicklung, und identifizierte potenzielle Biomarker für perinatale Hirnverletzungen. Zusammenfassend (links) zeigten ihre Ergebnisse, dass eine proinflammatorische T-Zellen-Reaktion mit einer unterdrückten elektrokortikalen Reifung korreliert. γδ T-Zellen nahmen dabei eine zentrale Rolle für die weitere Entstehung schwerer Hirnschäden ein. Darüber hinaus war die Überwucherung von Klebsiella Bakterien im Magen-Darm-Trakt in hohem Maße prädiktiv für Hirnschäden. Rechts sind Manifestationen solcher Hirnverletzungen zu sehen. Die repräsentative Abbildungen zeigen eine intraventrikuläre Hirnblutung (IVH; rechts oben), sowie eine periventrikulären Leukomalazie (PVL; rechts unten), und wurden via bildgebender Schädel-Kernspintomographie aufgenommen. (© Seki et al., 2021)

Publikation in Cell Host & Microbe:
“Aberrant gut microbiota-immune-brain axis development in premature neonates with brain damage.” David Seki, Margareta Mayer, Bela Hausmann, Petra Pjevac, Vito Giordano, Katharina Goeral, Lukas Unterasinger, Katrin Klebermaß-Schrehof, Kim De Paepe, Tom Van de Wiele, Andreas Spittler, Gregor Kasprian, Benedikt Warth, Angelika Berger, David Berry & Lukas Wisgrill. Cell Host & Microbe (2021), DOI: 10.1016/j.chom.2021.08.004

In Österreich gibt es 50 verschiedene Gelsenarten (Stechmücken). Auch wenn diese sehr unterschiedliche ökologische Nischen besetzen, kann man kann sie grob in Lebensformtypen unterscheiden: Hausgelsen, Überschwemmungsgelsen, Frühjahrsgelsen und die Baumhöhlenbrüter. In den letzten Jahren wurden in Europa auch gebietsfremde Arten (Neobiota) eingeschleppt, wie z.B. die Asiatische Tigermücke.

Weltweit gibt es über 3500 Gelsenarten (=Stechmücken, Culicidae), und alle sind unterschiedlich. Sie unterscheiden sich in Aussehen und Genetik, bewohnen verschiedene Kontinente, haben unterschiedliche Vorlieben bezüglich Lebensraum und Brutgewässer. Manche Gelsenweibchen stechen am liebsten Säugetiere, andere haben es auf Amphibien abgesehen. Es gibt Generalisten (weniger anspruchsvoll) und Spezialisten, verschiedene Paarungssysteme und unterschiedliche Strategien um den Winter zu überstehen. Bevor man das nächste Mal über „die Gelsen“ schimpft, sollte man sich also genau ansehen, wen man da eigentlich vor sich hat.

In Österreich kann man 50 verschiedene Gelsenarten (aus 8 Gattungen) finden [1]. Nach ihren Präferenzen kann man diese grob in verschiedene Lebensraumtypen unterscheiden: Hausgelsen, Überschwemmungsgelsen, Frühjahrsgelsen und die Baumhöhlenbrüter.

Hausgelsen

Hausgelsen (hauptsächlich Arten der Gattung Culex; Abb. 1) sind vor allem im urbanen Raum zu finden. Der häufigste Vertreter dieser Gruppe ist in Österreich, sowie in vielen anderen Teilen Mitteleuropas, die Gemeine Stechmücke (Culex pipiens) [2]. Die Weibchen überwintern in der Natur in hohlen Bäumen und Erdlöchern, im Siedlungsbereich in Kellern, Dachböden oder anderen frostfreien Räumen. Im Frühjahr reichen kleinste Wasseransammlungen (in der Nähe ihres Winterschlafplatzes) für die Eiablage aus. Da diese Gelsen in unseren Behausungen überwintern, sind sie es auch, die uns im Frühling als erstes und im Spätherbst als letztes stechen wollen. Die Hausgelsen-Weibchen suchen ihre Opfer für die nächste Blutmahlzeit meist in der Dämmerung oder Nacht. Waren sie bei der Suche nach einem Wirtstier erfolgreich, nutzen sie nun das Protein aus der Blutmahlzeit, um daraus Eier zu entwickeln. Die Eier werden dann in Paketen – sogenannten Eischiffchen – auf der Wasseroberfläche abgelegt. Als Eiablageplatz eignen sich die Uferbereiche von Teichen und stehenden Wassergräben aber auch Regentonnen, Blumentopfuntersetzer oder Vogeltränken. Ein Weibchen legt etwa 150 - 250 Eier, aus denen sich dann mehrere Generationen pro Jahr entwickeln können [3]. Somit können Hausgelsen abhängig von den herrschenden Klimabedingungen (Niederschlag, Temperatur etc.) mehrere Generationen im Jahr hervorbringen. Je nach Witterung kann ein solches Weibchen bis zum Ende der Saison theoretisch mehrere Millionen Nachkommen haben.

Hausgelsen-Weibchen legt gerade ein Eischiffchen auf der Wasseroberfläche ab.
Abb. 1 Ein Hausgelsen-Weibchen legt gerade ein Eischiffchen auf der Wasseroberfläche ab. (Bild: flickr/Sean McCann, CC BY-NC-SA 2.0)

Frühjahrsgelsen

Im Gegensatz dazu haben Frühjahrsgelsen (diese stammen meist aus der Gattung Aedes, zB. Ae. cantans, Ae. communis, Ae. rusticus; aber auch Culiseta, zB. Cs. morsitans) nur eine Brut pro Jahr. Bei den Frühjahrsgelsen überwintern die Eier oder die Larven. Die Larven entwickeln sich bereits bei geringer Wassertemperatur (10 °C), sodass die ersten adulten Tiere bereits ab April zu finden sind.

Überschwemmungsgelsen

Überschwemmungsgelsen (eine Vielzahl der Aedes-Arten) sind aufgrund ihrer Eilegestrategie stark von der Dynamik der Auwälder abhängig. Die Weibchen legen ihre Eier in trockenliegende Überschwemmungsgebiete, wo diese oft über mehrere Jahre ohne Wasser überdauern können. Wenn nach einem Hochwasserereignis die Eier überflutet werden, kommt es zu einem Massenschlupf der Larven. Überschwemmungsgelsen verbleiben normalerweise in der Nähe ihres Brutplatzes, können aber passiv durch starken Wind weit vertragen werden. Im Gegensatz zur Hausgelse überleben die adulten Überschwemmungsgelsen meist nur bis zum nächsten Wetterumschwung und sterben spätestens im Herbst ab, und nur die Eier überwintern.

Fiebergelsen

Fiebergelsen (Gattung Anopheles) verdanken ihren Namen der Tatsache, dass sie Hauptüberträger der Malaria-Erreger sind. Sie sind vom Lebensformtyp ähnlich den Hausgelsen. Sie sind nachtaktiv und stechen am liebsten Säugetiere (v.a. Rinder, aber auch Menschen). Man findet sie in menschlichen Bauten aber noch häufiger in feuchten Räumen und Tierställen, in denen sie auch überwintern. Als Brutgewässer nutzen sie meist saubere natürliche Gewässer, wie grasige oder verkrautete Ufer von Seen oder Tümpeln.

Baumhöhlenbrüter

Die Baumhöhlenbrüter (hauptsächlich Vertreter der Gattung Aedes) waren bis vor ca. 30 Jahren eine recht wenig beachtete Gruppe. In dieser Gruppe legen Weibchen ihre Eier am Rand kleinster Wassermengen – wie eben in Baumhöhlen – ab. Kulturfolgende Vertreter dieser Gruppe finden im städtischen Raum eine Vielzahl an möglichen Brutgewässern. Regentonnen, Blumentopfuntersetzer, stehengelassener Müll, Spielzeug oder Werkzeug. Alle Gefäße, in denen sich Wasser sammeln kann, sind mögliche Brutgewässer für diese Arten – weshalb sie auch Container-Brüter genannt werden.

Gebietsfremde Arten

Gerade diese Container-brütenden Gelsen sind es, die in den letzten Jahrzehnten vermehrt in Europa eingeschleppt wurden. Hierbei gilt zu beachten, dass diese oft aus weit entfernten Gebieten (meist asiatischer Raum) stammenden, gebietsfremden Arten (Neobiota) nicht mit dem in den Medien gerne verwendeten Begriff „invasive Arten“ gleichzusetzen sind. Nach der Definition der IUCN (International Union for Conservation of Nature) gelten als invasive Arten nur solche, die nachweislich zu Veränderungen in der Struktur und Zusammensetzung von Ökosystemen führen, sich nachteilig auf die Ökosystemleistungen, die menschliche Wirtschaft und das Wohlbefinden auswirken [4]. Dies entspricht neben der Etablierung in einem neuen Gebiet auch der Verdrängung einheimischer Arten. Erst wenn dies zutrifft handelt es sich um invasive Arten.

Eine gebietsfremde Art konnte sich in Österreich bereits etablieren: die Asiatische Buschmücke (Aedes japonicus). Diese Art ist ursprünglich in Korea, Japan, Taiwan, sowie im Süden von China und Südosten von Russland heimisch und wurde in Europa vermutlich durch den Gebrauchtreifen-Handel eingeschleppt [5]. In Europa wurde sie erstmals im Jahr 2000 in der Normandie (Orne), im Norden Frankreichs, nachgewiesen. Seit 2002 gibt es Belege dieser Art in Belgien, in der Schweiz seit 2008 und seit 2011 in Deutschland. In Österreich wurde die Asiatische Buschmücke ebenfalls erstmals 2011 in der Steiermark ermittelt [6], inzwischen ist sie jedoch in allen Bundesländern nachgewiesen worden. Sie ist mammalophil/anthropophil (sticht daher gerne Menschen) und im Gegensatz zu den meisten heimischen Arten auch tagaktiv.

Im Gegensatz dazu konnte sich die Asiatische Tigermücke (Aedes albopictus; Abb. 2) in Österreich bisher noch nicht etablieren. Die Asiatische Tigermücke stammt ursprünglich aus den tropischen Wäldern Südost-Asiens und wurde nach Europa vor allem mit Gütertransporten (insbesondere mit Gebrauchtreifen und Glücksbambus) eingeschleppt [5]. Vor ungefähr 30 Jahren wurde sie erstmals in Albanien und später in Italien nachgewiesen und konnte sich von dort rasch in Südeuropa ausbreiten. Durch den passiven Transport adulter Tiere in Autos und Lastwägen wurde sie auch weiter in nördliche Gebiete verschleppt [7]. So erfolgten in Deutschland und der
Schweiz Nachweise dieser Gelsenart besonders entlang Autobahnrouten aus Südeuropa [8], [9]. Die Asiatische Tigermücke hat sich in den letzten Jahren rapide in Europa ausgebreitet [5], [10] und wurde bereits in allen österreichischen Nachbarländern gefunden. In Italien, der Schweiz und Slowenien bestehen bereits etablierte Populationen.

Auch in Österreich konnte Ae. albopictus bereits nachgewiesen werden: im Jahr 2012 in Tirol und im Burgenland, und seit 2016 an mehreren Standorten in Tirol. Bisher bestehen jedoch keine stabilen, überwinternden Populationen dieser Art in Österreich. Die nachgewiesenen Exemplare der Asiatischen Tigermücke scheinen jedes Jahr aufs Neue aus Nachbarländern importiert worden zu sein. Grund hierfür dürfte vor allem sein, dass diese Art, im Gegensatz zu der Asiatischen Buschmücke, aus tropischen Gebieten stammt. Die nördliche Ausbreitungsgrenze der Asiatischen Tigermücke in Europa wird vor allem durch die vorherrschenden Wintertemperaturen und die jährliche Jahresmitteltemperatur bestimmt [11]. Steigende Temperaturen im Zuge der Klimaerwärmung begünstigen somit die Etablierung von Populationen der Asiatischen Tigermücke in immer nördlicheren Gebieten.

Eine Asiatische Tigermücke (Ae. albopictus)
Abb. 2 Eine Asiatische Tigermücke (Ae. albopictus) erkennt man an dem weißen Streifen am Rückenschild, den weißen Spitzen an den Palpen, sowie den gestreiften Beinen. (Bild: flickr/Sean McCann, CC BY-NC-SA 2.0)
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Ist es eine Tigermücke?

Tigermücken sind sehr kleine Gelsen (passen problemlos auf eine 1-Cent-Münze). Man erkennt sie an ihrem weißen Streifen auf dem schwarzen Rückenschild und den schwarz-weiß gestreiften Hinterbeinen (Abb. 2). Aber Achtung! Die gestreiften Beine alleine sind noch kein eindeutiges Merkmal – auch sehr viele heimische Arten haben diese.
TIPP: Mit der App Mosquito Alert kannst du ganz leicht überprüfen, ob du eine Tigermücke gefunden hast. Übermittle mit der App einfach ein Foto deiner Gelse und ExpertInnen geben dir innerhalb kurzer Zeit Bescheid, ob du tatsächlich eine Tigermücke oder eine andere gebietsfremde Art gefangen hast.
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Literatur

[1] C. Zittra, M. Car, M. Lechthaler, and W. Mohrig, “Diptera: Culicidae,” in Fauna Aquatica Austriaca, 3rd ed., O. Moog and A. Hartmann, Eds. Wien: BMLFUW, 2017, pp. 1–11.
[2] K. Lebl et al., “Mosquitoes (Diptera: Culicidae) and their relevance as disease vectors in the city of Vienna, Austria,” Parasitol. Res., vol. 114, no. 2, 2014.
[3] N. Becker, D. Petric, M. Zgomba, M. Madon, C. Dahl, and A. Kaiser, Mosquitoes and Their Control, 2nd ed. Springer, 2010.
[4] C. Shine, N. Williams, and L. Gründling, Environmental Policy and Law Paper No. 40: A Guide to Designing Legal and Institutional Frameworks on Alien Invasive Species. 2000.
[5] J. M. Medlock et al., “A review of the invasive mosquitoes in Europe: Ecology, public health risks, and control options,” Vector-Borne Zoonotic Dis., vol. 12, no. 6, pp. 435–447, 2012.
[6] B. Seidel, D. Duh, N. Nowotny, and F. Allerberger, “Erstnachweis der Stechmücken Aedes (Ochlerotatus) japonicus japonicus (Theobald, 1901) in Österreich und Slowenien in 2011 und für Aedes (Stegomyia) albopictus (Skuse, 1895) in Österreich 2012 (Diptera: Culicidae),” Entomol. Zeitschrift – Stuttgart, vol. 112, no. 5, pp. 223–226, 2012.
[7] E.-J. Scholte and F. Schaffner, “Waiting for the tiger – establishment and spread of Aedes albopictus mosquito in Europe,” in Emerging pests and vector-borne diseases in Europe. volume 1: Ecology and contro of vector-borne diseases, W. Takken and B. G. J. Knols, Eds. Wageningen Academic, Wageningen, 2007, pp. 241–260.
[8] N. Becker et al., “Repeated introduction of Aedes albopictus into Germany, July to October 2012,” Parasitol. Res., vol. 112, no. 4, pp. 1787–1790, 2013.
[9] E. Flacio, L. Engeler, M. Tonolla, and P. Müller, “Spread and establishment of Aedes albopictus in southern Switzerland between 2003 and 2014: an analysis of oviposition data and weather conditions,” Parasit. Vectors, vol. 9, no. 1, p. 304, 2016.
[10] M. Bonizzoni, G. Gasperi, X. Chen, and A. A. James, “The invasive mosquito species Aedes albopictus: Current knowledge and future perspectives,” Trends Parasitol., vol. 29, no. 9, pp. 460–468, 2013.
[11] D. Roiz, M. Neteler, C. Castellani, D. Arnoldi, and A. Rizzoli, “Climatic factors driving invasion of the tiger mosquito (Aedes albopictus) into new areas of Trentino, Northern Italy,” PLoS One, vol. 6, no. 4, p. e14800, 2011.

Titelfoto: Sciene Raft am Inn. Foto: J. Ecker

Die Innauen erforschen, wie keiner zuvor, und auf diese sensiblen Ökosysteme aufmerksam machen: Das haben sich sechs Mitglieder der ABA-Regionalgruppe Westösterreich (WÖB) mit dem Science Raft zum Ziel gesetzt. Vor kurzem haben sie via Boot rund 65 Kilometer auf dem Inn zurückgelegt und dabei Interessantes entdeckt.

Kälte. Sie kommt zuerst, wenn man sich in die milchig-grünen Fluten des Inn gleiten lässt, spürt, wie sein Wasser das Neopren durchdringt, bevor sich eine wärmende Isolationsschicht aufbauen kann. Heftig gegen die Strömung ankämpfend, beginnt man zu verstehen, welche Kräfte die Landschaftsstrukturen und Lebensgemeinschaften bestimmen, die unter dem Begriff „Au“ bekannt sind. Es sind schützenswerte Ökosysteme, die in ständigem Austausch mit dem Fluss stehen – wie also könnte man dieses teils schwer zugängliche Terrain besser erforschen als per Boot? Sechs „Science Rafter“ – Anna Schöpfer, Lena Nicklas, Gabriel Gruber, Moritz Falch, Vera Margreiter und Julia Ecker – haben sich, unterstützt vom WWF Interreg-Projekt INNsieme sowie der Wasserrettung Innsbruck und einer Filmemacherin auf die Reise begeben und Interessantes entdeckt.

Start in der Milser Au_(c) L. Reggentin / WWF

Von Mils bis Silz via Wildwasser

Die Expedition startete frühmorgens an einem sonnigen Tag – zunächst noch an Land, mit der Milser Au: ein botanisches Kleinod, das man hinter der stark frequentierten Raststätte dort kaum vermutet hätte. Den Lebensraumtyp hier, Großröhricht, gibt es in Tirol sehr selten. Prompt fielen den Botanikern der Crew auch Typha angustifolia (Schmalblättriger Rohrkolben) und vor allem Eleocharis mamillata (Zitzen-Sumpfbinse) ins Auge, letztere haben sie vorher noch nie gesehen.

Der Platz gefiel, doch der straffe Zeitplan trieb zur Eile: In 4 Tagen wollte das Team mit Hilfe der Wasserrettung flussabwärts bis Langkampfen raften, also 140 Kilometer per Fluss zurücklegen – das Ziel dabei: während der kurzen Stopps so viele Arten und geomorphologische Besonderheiten wie möglich in den Auen zu dokumentieren. „Das ist wichtig. Die Auen sind ein dynamischer Lebensraum“, erklärt Vera, „es gibt da einige Spezialisten, die verschwinden, wenn das nicht mehr so dynamisch ist – zum Beispiel, wenn die Wasserzufuhr wegfällt. Man muss einfach kennen, was man schützen soll.“

Fürs Erste galt es aber im Rafting-Boot Etappe 1 zu bestreiten. Zwischen Mils und Imst ging es zunächst noch ruhig dahin. Man bestaunte, wie das Wasser in hundert glitzernden kleinen Rinnsalen die hineinragenden Schotterbänke überspülte und von dort wieder zurück in den Hauptarm floss. Dann änderte der Auslass des Kraftwerks Imst die Wasserfarbe des eben noch klaren Inns zu milchig-graugrün und brachte neue Strömungskraft mit sich. Ab Imst klang der Expeditionscrew bereits das laute „vorwärts, kräftig vorwärts!“ und „stop!“ des Rafting-Guides zwischen den Wellenbergen der gewundenen Imster Schlucht in den Ohren. Ein Riesenspaß – aber kein Kindergeburtstag. Während man seine Beine krampfhaft in die Bootsritzen krallte, um während der Manöver auf der meist befahrendsten Rafting-Strecke Europas genug Halt zu haben, und paddelte, was das Zeug hielt, war das Fachliche einen Augenblick völlig vergessen. Da zeigte der Inn, was er kann – ebenso wie der Rafting-Guide, der sich über das Gejauchze im Boot sichtlich freute.

Botanisieren in der Silzer Au_(c) J. Ecker

Schatzkiste Silzer Au

Bei der Silzer Au angekommen, ließen sich die Ausmaße der Inn-Gewalt und ihr Einfluss auf die umgebende Landschaft erkennen. Flussseitig hatte die Au noch eine recht „aufgeräumte“ Uferstruktur und wirkte – abgesehen vom Lärm der nahen Autobahn bzw. Zugstrecke fast idyllisch. Doch dort, wo der Inn sich gelegentlich seinen Weg ins Innere des Auwaldes bahnt, zeigte sich ein wilderes Bild: Im untertags kaum Wasser führenden, gefurchten Seitenarm lag viel angeschwemmtes und abgelagertes Totholz, das den Arm unterteilte, als wären es schlampig gezimmerte Biberburgen, mit trüben Pfützen dazwischen.

„Aber das ist es grade: Wenn man sich die Flüsse in Österreich anschaut, gibt es wenige Orte, wo es so vielfältige Strukturen gibt. Das Wertvolle dran ist einfach, dass es Lebensraum ist für verschiedenste Lebewesen; für Amphibien, Insekten, Mikroorgansimen, die hier Strukturen haben, wo sie sich wohlfühlen. Die haben sie nicht mehr, wenn alles hart verbaut ist, weil der Fluss einfach in einer Linie fließt.“

Gabriel Gruber, Limnologe

Auch botanisch gesehen seien solche Schwemmfluren wie Schatzkisten, ergänzt Moritz. Man wisse vorher nie, was man hier findet. Der Austausch mit dem Wasser ist also maßgeblich für die Auen: „Es sind Hotspots der Artenvielfalt – zwar nicht so bekannt wie der Amazonas“, räumt Anna ein, „aber es sind bei uns oft die letzten Refugien, weil hier so ein breites Spektrum an ökologischen Nischen da ist.“ Mit einer Renaturierung ließen sich diese Nischen mancherorts teilweise wiederherstellen: Man schafft damit wieder Strukturen, die geeignet sind für Pioniergehölze, und die gut vom Hochwasser überflutete werden können.

Natürliche Strukturen in der Silzer Au_(c) J. Ecker

Von Mieming und Müll

Stromabwärts trugen bald schon ruhigere Gewässer die Rafter vorbei an der Mieminger Kette, was für Staunen sorgte – der Blick vom Wasser aus macht selbst Bekanntes wieder neu erlebbar. Die Mieminger Au prägt zum einen der Wasserfall, der sein Wasser aufgesplittet in kleinen Bächlein durch ein breites Kiesbett zum Inn schickt. Viel Geröll kommt hier in den Fluss. Es finden sich schöne Schotterbänke, Sandbänke und Seitenarme, und in Ufernähe diverse Weidenarten. Die Au zeigt aber auch den menschlichen Einfluss: Müllspuren. „Die Leute gehen gern in die Schutzgebiete, weil es sonst nicht mehr so viele Orte gibt, die schön sind, und da gibt es dann öfters einen Nutzungskonflikt“, weiß Lena. Das kann auch Schutzgebietsbetreuer Gebhard Tschavoll vom WWF bestätigen. Als die Gruppe anlegte, war er gerade dabei Abfall in der Au einzusammeln. Neben der Verbauung ist auch das ein Problem, zumal Tafeln keine Wirkung zu zeigen scheinen. „Aber es gibt auch Leute, die sich gut verhalten“, betont Anna, und da sei es schön zu sehen, wie wohl sich die Leute am Fluss fühlen.

In der Mieminger Au_geomorphologische Beobachtungen (c) J. Ecker

Mit der Regenfront von Gaisau bis Kranebitten

Weniger wohl fühlt sich nasser Neopren bei Regen und kühlem Wind an: Die prophezeite Regenfront hatte die Rafter schließlich eingeholt. Trotzdem erwanderte man sich – noch immer im Anzug – die teils wild wuchernde Gaisau. Sie verbirgt sich hinter einer Böschung und beinhaltet neben umgebenden Feuchtwiesen auch einen idyllischen Weiher, an dem viele seltene Pflanzen- und Tierarten, unter anderem der Eisvogel, leben.

Mit kräftigen Ruderschlägen gegen die Kälte, erreichten die Rafter am späten Nachmittag die Kranebitter und Völser Auen bei Innsbruck, die allerdings wetterbedingt noch bis zum nächsten Tag warten mussten. Die Purpurweiden sowie Reifweiden und Grauerlen dort sind typisch für eine weiche Au. Von den Strukturen war allerdings am nächsten Tag nicht mehr viel zu erkennen – durch das Regen bedingte Hochwasser waren beim Besuch der Rafter einige Schotterbänke schon überspült, auch die Flutmulden des Auwalds haben sich mit Wasser gefüllt – ebenso wie die Schuhe der Crew. Da war der Neoprenanzug wieder willkommen.   

Weiher in der Gaisau_(c) J. Ecker

Endspurt mit Rettungseinsatz

Dem Endspurt nach Innsbruck zur geplanten Pressekonferenz kam allerdings noch ein Notfall der Wasserrettung dazwischen. Hektisch wurde umgeplant. Nichtsdestotrotz landete die Truppe schließlich doch sicher am Marktplatz an – bei immer noch strömendem Regen. Vizebürgermeisterin Uschi Schwarzl ließ sich die Begrüßung trotzdem nicht nehmen, wäre sie doch ursprünglich gern selbst ein Stück mitgefahren. Auch Elisabeth Sötz vom WWF interreg Projekt INNsieme war da. Das Fazit der Rafter bei der Endbesprechung war klar: Noch mehr Renaturierung wäre gut für die Auen, denn auch wenn es einige schöne, naturnahe Abschnitte am Inn gibt, gibt es immer noch zu viel hart verbaute Uferabschnitte, die die Auen austrocknen lassen. Auch ein direkterer Zugang zum Inn in der Stadt Innsbruck wäre wünschenswert, natürlich unter Berücksichtigung des Hochwasserschutzes.

Unter Berücksichtigung des eigenen Schutzes vertagte man Etappe 4 nach Lamgkampfen auf ein Wochenende im Oktober. Schweren Herzens. Als allerdings die ersten Baumstämme den nunmehr schlammfarbigen, stark angestiegenen Inn hinunterströmten, bereute diese Entscheidung keiner mehr. Die Rafter überließen die Auen vorerst wieder den formenden Kräften des Hochwassers, denn mittlerweile konnte man sie wieder deutlich spüren, die Kälte – trotz der Isolationsschicht des Neoprens. Das letzte Streckenstück ist aber bereits in Planung, mit neuen spannenden Augebieten flussabwärts, und hoffentlich etwas mehr Sonne.

WOEB Rafting Team und die Wasserrettung_(c) Christina Schmölz

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Weiterführende Links und Artikel

https://www.wwf.at/de/innsieme-erster-science-raft-am-inn-gestartet/?useMobile=false

https://www.krone.at/2220107

https://tirol.orf.at/stories/3064438/

Titelfoto: evdn via pixabay

2019 wurde das „Österreichische Freilandbotanik-Zertifikat“ ins Leben gerufen. Es soll einen Anreiz bieten, sich in pflanzlicher Diversität zu vertiefen. Das Zertifikat gibt Interessierten die Möglichkeit, ihre botanischen Artenkenntnisse und weitere freilandrelevante Fähigkeiten unabhängig und nach einheitlichen Standards überprüfen zu lassen.

Schlagwörter wie Artenschwund, Diversitätsverlust oder Biodiversitätskrise haben heute mittlerweile auch den Weg über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Flora und Fauna hinaus gefunden. Veränderung unserer heimischen Diversität in Form von Wandel und Verlust finden unbestreitbar statt  und sie ist regelmäßiger Teil der medialen Berichterstattung geworden und so auch ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Artenkennerinnen und -kenner werden selten

Es gibt aber einen weiteren Aspekt in Zusammenhang mit Biodiversität, der kaum nach außen dringt und damit der Allgemeinheit meist verborgen bleibt – nämlich die Situation der Artenkenner. Aussagen wie „Artenkenntnis bzw. Artenkenner stehen selbst auf der Roten Liste“ bringen zum einen den Zustand zum Ausdruck, dass versierte Freilandbiologinnen und -biologen mit fundierter Artenkenntnis selbst zu den bedrohten Arten zählen. Sie spiegeln aber auch den subjektiven Eindruck beharrlich abnehmender Artenkenntnis wider. Tatsächlich zeigt sich die Situation in Form von Gutachten und Kartierungen im Auftrag der öffentlichen Hand, im Wissenschaftsbetrieb von universitären Einrichtungen oder wissenschaftlichen Sammlungen von Museen und Universitäten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Nicht zuletzt kommt auch der Verschiebung der Schwerpunktsetzung in der einschlägigen Ausbildung an den Universitäten, angepasst an die Vergabekriterien von Wissenschaftsfonds und den Schwerpunktsetzungen wissenschaftlicher Zeitschriften oder Tagungen eine tragende Rolle zu.

Die derzeit zunehmende Diskussion im Zusammenhang mit dem Biodiversitätswandel verdeutlicht einmal mehr, dass oft die Grundlagen für eine seriöse Beurteilung der Veränderungen fehlt. Eine entsprechende Datenerhebung wäre dringend notwendig, dazu fehlt jedoch meist das Geld und immer öfter auch qualifizierte Artenkenner, für manche Organismengruppen gibt es sie fast gar nicht mehr.

Das „Österreichische Freilandbotanik-Zertifikat“ bescheinigt Artenkenntnis

Vor diesem Hintergrund wurde unter der Federführung des Instituts für Botanik der Universität Innsbruck in einer Zusammenarbeit von einschlägigen botanischen Forschungs- und Sammlungseinrichtungen wie Universitäten und Museen nach einer Möglichkeit gesucht, einen Anreiz zu schaffen und Freilandbotanik und botanische Artenkenntnis wieder ins Gespräch zu bringen. 2019 wurde basierend auf einem in der Schweiz seit Jahren erfolgreichen Modell das „Österreichische Freilandbotanik-Zertifikat“ ins Leben gerufen.

Das „Österreichische Freilandbotanik-Zertifikat“ gibt allen Interessierten die Möglichkeit, ihre botanische Artenkenntnis und weitere freilandrelevante Fähigkeiten unabhängig nach einheitlichen Standards überprüfen zu lassen. Die Prüfungen werden von einschlägigen botanischen Einrichtungen öffentlicher Institutionen wie Universitäten oder Museen abgehalten. Die Zertifizierung umfasst die Prüfungsabwicklung und Ausstellung des Zertifikates. Eigene Kurse werden im Rahmen der Zertifizierung nicht angeboten. Die Ausstellung des Zertifikates erfolgt im Namen des „Verein zur Erforschung der Flora Österreichs“, die verwaltungsmäßige Abwicklung über das Institut für Botanik der Universität Innsbruck.

Das Österreichische Freilandbotanik-Zertifikat soll Interesse an pflanzlicher Diversität wecken und gleichzeitig auch Anreiz sein, sich darin zu vertiefen. Der Zugang zu den Prüfungen ist daher einfach und unkompliziert, Voraussetzungen werden nicht verlangt. Zudem hat man die Möglichkeit, je nach eigenem Kenntnisstand und eigener Einschätzung derzeit zwischen drei Stufen zu wählen, die jeweils drei unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden vom Einsteiger bis stark Fortgeschrittenen entsprechen. Grundsätzlich liegt bei allen Stufen der Fokus auf Artenkenntnis.

Drei Stufen zum Freilandbotanik-Gütesiegel

Die erste Stufe verlangt ausschließlich das sichere Erkennen von 250 Arten. Die Stufen zwei und drei umfassen 500 bzw. 750 Arten. Hier kommen aber zunehmend weitere, ebenfalls durchwegs Freiland relevante Kenntnisse dazu. Insbesondere die dritte Stufe soll mit 750 Arten, 60 Gattungen und 40 Familien und deren Merkmalen, erweitert durch das Ansprechen von Lebensräumen und Lebensgemeinschaften, Kartierung und Bestimmung eine echte Herausforderung darstellen, die einem „Gütesiegel“ gleichkommt.

Es gibt ein österreichweites Zertifikat mit einer Basisliste an Arten. Regionale Unterschiede in der österreichischen Flora können aber berücksichtigt werden, indem der Tausch von bis zu 50 Arten gegenüber der Basisliste pro Stufe und Prüfungsstandort möglich ist. Dies soll insbesondere Einsteigenrinnen und Einsteigern den Zugang erleichtern. Derzeit kann man zwischen fünf Prüfungsstandorte wählen. Zur Erlangung des Zertifikates sind für die Stufen 1 und 2 dezentrale Prüfungen an allen fünf Prüfungsstandorten vorgesehen, die Stufe 3 wird zentral in Innsbruck durchgeführt. Die Prüfungsantritte pro Person sind nicht begrenzt und Einsteigen ist auf jeder Stufe möglich.

Ein paar Fotos gleich zur Übung (deswegen stehen keine Namen dabei):

Interesse geweckt?

Konnten Sie die Arten erkennen und die Fragen beantworten?
Die heurigen Prüfungstermine finden Anfang Juli und im September 2020 statt!
Weitere Informationen zum Zertifikat, Artenlisten, Prüfungsstandorten und Prüfungsterminen finden Sie unter folgendem Link:

Titelbild: Dipetalogaster maxima während des Saugvorganges an einem Schabrackentapir (Tapirus indicus); Bild: André Stadler

Blutproben liefern Veterinärmedizinern wichtige Rückschlüsse auf das Wohlbefinden eines Tieres. Deswegen ist eine Blutentnahme zur Erstellung einer Diagnose bei Wirbeltieren von großer Bedeutung. Während die Blutprobenentnahme bei Haustieren noch relativ einfach zu erledigen ist, gestaltet sich diese bei Zoo- und Wildtieren deutlich schwieriger. Viele Tierarten, die in zoologischen Gärten gehalten werden, können nicht beliebig fixiert oder soweit beruhigt werden, dass der Tierarzt eine Blutprobe mit Hilfe einer Kanüle abnehmen kann. Dieses ist bei vielen Tieren nur unter Narkose möglich, die wiederum eine zusätzliche Gefahr für die Tiere darstellt. Dieses Risiko wird bei vielen Arten nicht oder nur in Notfällen eingegangen. Eine Alternative dazu stellt der Einsatz von blutsaugenden Raubwanzen aus Mittel- und Südamerika dar.

Die Wanzen der Unterfamilie Triatominae ernähren sich ausschließlich von Blut. Sie werden auf Grund dieser Eigenschaft für die Xenodiagnose bei Menschen empfohlen (MARSDEN et al. 1979). Bei dieser schon kurz nach der Erstbeschreibung der Chagas-Krankheit (Trypanosoma cruzi) Anfang des 20. Jahrhunderts eingesetzten Diagnosemethode, werden Raubwanzen aus sterilen Laborzuchten beim Menschen eingesetzt. Diese saugen das Blut mit Hilfe ihres Saugrüssels, welcher feiner ist als eine handelsübliche Kanüle. Enthält das Blut Trypanosomen, so vermehren sich diese in den Wanzen und können später mikroskopisch viel leichter nachgewiesen werden, als die wenigen ursprünglich im Blut der Menschen enthaltenen Parasiten (BRUMPT 1914).

Neben der Xenodiagnose werden Triatominen aus Laborzuchten in den letzten Jahren auch zunehmend als „lebende Spritzen“ zur Blutgewinnung bei kleinen Wirbeltieren eingesetzt, bei denen die Entnahme mit einer Kanüle risikoreich ist. Bei bisherigen Studien an Fledermäusen (Microchiroptera), Flussseeschwalben (Sterna hirundo), Primaten und Kaninchen (Oryctolagus cuniculus) fanden Untersuchungen zum Energieaufwand der nektarsaugenden Fledermäuse und zur Hormonanalytik bei Kaninchen erfolgreich statt (VON HELVERSEN & REYER 1984, VON HELVERSEN et al. 1986, VOIGT et al. 2004, 2006, BECKER et al. 2005, THOMSEN & VOIGT, 2006).

Abb. 1 Nahaufnahme des Saugrüssels der Raubwanze, angesetzt an einer Afrikanischen Zwergziege (Capra hircus f. dom.). Foto: André Stadler
Abb. 2 Nahaufnahme des fünften Larvenstadiums (L5) von Dipetalogaster maxima. Foto: Stephan Gatzen

Während bisher vor allem der Nachweis von Parasiten bzw. die Bestimmung von Hormontitern im Vordergrund standen, sollten die Untersuchungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit überprüfen, ob sich die Raubwanzen der Familie Reduviidae ebenfalls zur nicht-invasiven Gewinnung von Blutproben bzw. zur anschließenden Bestimmung klinisch relevanter Blutparameter bei Zootieren eignen.

Biologie der Raubwanzen

Bei der Insekten-Familie Reduviidae ernähren sich die mehr als 130 Arten der Unterfamilie Triatominae in den postembryonalen Stadien ausschließlich von Blut, das sie für die Häutung benötigen. Die Häutung findet nach einer verdauten Blutmahlzeit statt (LENT & WYGODZINSKY 1979, SCHOFIELD 1994). Diese größten blutsaugenden Insekten besitzen Speichelkomponenten, die die Reizleitung unterbinden, sodass der Anstich und die bis zu 20 Minuten andauernde Aufnahme von bis zu 3,8 ml Blut vom Wirt nicht wahrgenommen wird (SCHAUB & POSPISCHIL 1995, DAN et al.1999). Triatominen nehmen das 6-12fache ihres Körpergewichtes an Blut auf, das zunächst in den großen erweiterbaren Abschnitt des Mitteldarmes, den Magen, gelangt. Durch die rasche Entnahme der wässrigen Blutbestandteile wird der Mageninhalt aufkonzentriert und – abgesehen von einer Auflösung (Hämolyse) der Blutzellen erst nach ca. 3 – 4 Tagen – unverändert gelagert. Anschließend gelangt er portionsweise in den verdauenden Mitteldarmabschnitt, den Dünndarm (BAUER 1981, SCHAUB 2001).

Da der Hinterleib der Wanzen (Abdomen) vollgesogener Larven fast kugelrund ist und sich die Larven schlecht fortbewegen können, besitzen Triatominen das effektivste Exkretionssystem des Tierreiches und beginnen z.T. schon zum Ende der Blutaufnahme mit der Ausscheidung der wässrigen Blutbestandteile (MADRELL 1969). Triatominen kommen fast nur in Lateinamerika vor, vom Süden der USA bis nach Argentinien, und können dort den Erreger der Chagas Krankheit, den Einzeller Trypanosoma cruzi, übertragen (SCHAUB 1996).

Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit eingesetzte Art Dipetalogaster maxima findet sich nur in der Nebelwüste auf der niederkalifornischen Halbinsel in Mexiko und ist mit 33 – 42 mm die größte bekannte Triatominen-Art (RYCKMAN & RYCKMAN 1963, LENT & WYGODZINSKY 1979). Wegen der lebensfeindlichen klimatischen Bedingungen müssen diese Raubwanzen sehr aggressiv sein und stechen die Wirte rasch an. Sie saugen an allen warmblütigen Vertebraten, vor allem an Reptilien und kleinen boden- oder baumlebenden Säugetieren sowie Vögeln und sind im Gegensatz zu den meisten nur nachtaktiven Triatominen auch tagaktiv (RYCKMAN & RYCKMAN 1963, LENT & WYGODZINSKY 1979).

Methodik

Die eingesetzte Raubwanze Dipetalogaster maxima wird unter standardisierten Bedingungen bei 26 ± 1°C, 70 – 80% relativer Feuchte und einem 16/8 Hell-Dunkel-Rhythmus mit Hühnern (Gallus gallus f. dom.) als Wirten im Labor gezüchtet (SCHAUB 1989). Verwendet werden meist die vierten oder fünften Larvenstadien (L4 bzw. L5) ihres Entwicklungszyklus.

Bei der Blutentnahme mit der Raubwanze werden verschiedene Einsatzmöglichkeiten überprüft. Hierdurch soll festgestellt werden, ob und wie Raubwanzen in der täglichen Arbeit von Veterinären in Zoologischen Gärten als Hilfsmittel bei der Bestimmung von hämatologischen und chemischen Blutparametern eingesetzt werden können.

Die Raubwanzen werden in drei verschiedenen Weisen an die zu untersuchenden Tiere gebracht. Die erste Variante ist, entsprechend der generellen Praxis bei Xenodiagnosen, das Anhalten eines Gefäßes, bei dem die Öffnung mit Gaze verschlossen wird, durch die hindurch die Raubwanzen das zu beprobende Tier anstechen können. Dies wurde im Zoo bereits erfolgreich vom Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW, Berlin) bei Primaten eingesetzt (HOFFMANN et al. 2005). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen wurden durchsichtige Plastikbecher eingesetzt, welche keine Vorrichtung zum Fixieren der Raubwanzen enthielten, sondern – wie bei der Xenodiagnose – nur kleine Pappkartons, in denen sich die Tiere frei bewegen konnten, um den Wirt in Verlängerung ihrer Körperachse anstechen zu können. Dies bewirkte meistens ein rascheres Anstechen als die Verwendung eines Gefäßes ohne Karton (SCHAUB 1990). Vor dem Ansetzen der Gläser wurde mehrmals kräftig in die Gläser gehaucht oder das Gefäß an den eigenen Unterarm gehalten, um die Saugbereitschaft der Wanzen zu erhöhen.

Abb. 3 An einem Afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana) angesetztes Gefäß, befüllt mit Dipetalogaster maxima. Foto: Stephan Gatzen
Abb. 4 Stimulation der Raubwanzen in ihrem Gefäß über die Atemluft. Foto: Zoo Wuppertal

Bei der zweiten Variante wurden die Raubwanzen direkt auf das zu untersuchende Tier gebracht. Teilweise wurden die Raubwanzen hierbei, um das Wiederfinden zu erleichterten, mit weißen Bindfäden markiert. Diese wurden entweder mit Sekundenkleber an der Brust der Raubwanze (Thorax) befestigt oder um selbigen geknotet. Diese Methode wurde u.a. an einem Asiatischen Löwen (Panthera leo persica), Okapis (Okapia johnstoni), Tapiren (Tapirus sp.), Banteng (Bos javanicus), Nebelparder (Neofelis nebulosa), Kanadischen Wölfen (Canis lupus hudsonicus) und an Afrikanischen Zwergziegen (Capra hircus f. dom.) eingesetzt.

Abb. 5 Zwei blutsaugende Raubwanzen auf dem Rücken eines Asiatischen Löwens (Panthera leo persicus). Foto: André Stadler
Abb. 6 An einem Okapi (Okapia johnstoni ) saugende Raubwanze, markiert mit einem weißen Bindfaden. Foto: André Stadler

Eine dritte Variation der Positionierung der Raubwanzen war bei Tieren zu bevorzugen, die bestimmte Positionen in Ruhezonen einnehmen. Bei ihnen konnte unter die Ruhezone eine Schublade mit den Gefäßen der Raubwanzen eingebracht werden. Diese Methode wurde problemlos in den Schlafboxen von Erdmännchen (Suricata suricatta) (STADLER 2005) und bei Sandkatzen (Felis margarita) eingesetzt. Die Schlafbox wies einen modifizierten Boden auf, der an sechs verschiedenen Stellen mit einer Metallgaze verschlossene Öffnungen aufwies. Darunter befanden sich die Plastikgefäße mit den Raubwanzen.

Abb. 7 Sandkatze (Felis margarita) in einer mit Raubwanzen vorbereiteten Schlafkiste. Foto: André Stadler
Abb. 8 Präparierter Boden einer Schlafkiste für Erdmännchen (Suricata suricatta) im Wuppertaler Zoo. Foto: André Stadler

Direkt oder zu definierten Zeiten nach der Blutaufnahme wurde das Blut analog zu vorherigen Studien (z.B. VON HELVERSEN 1986) mit einer handelsüblichen 21G Kanüle aus dem Magen der Raubwanzen in eine Spritze aufgenommen und umgehend in ein Lithium-Heparin-Gefäß überführt. Letzteres ist aber nicht unbedingt notwendig, da der Speichel der Raubwanzen ausreichend Gerinnungshemmer (Antikoagulantien) enthält, führt aber zu einer verbesserten Genauigkeit der Parameter. Mit Hilfe des Blutgasanalyse-Gerätes i-STAT und mit Hilfe eines Vetscan oder in kommerziellen Laboren wurden bis zu 22 klinisch relevante Blutparameter bestimmt. Die molekularbiologischen Analysen erfolgten per PCR während die Untersuchungen auf Tierseuchen mit Ausnahme der Malariadiagnostik ausschließlich in zertifizierten Diagnostiklaboren erfolgte. Eine Bestimmung der Malariaparasiten im Blut erfolgte per Blutausstrichanalyse während die Hormonmetabolitbestimmung per ECLIA bzw. Elisa-Test erfolgten (STADLER 2019).

Abb. 9 Einführen der Kanüle in das Abdomen der Raubwanze, um das Blut abzuziehen. Foto: Stephan Gatzen

Abb. 10 Raubwanze während des Saugvorganges an einem Sambischen Kleingraumull (Fukomys anselli). Foto: André Stadler

Ergebnisse und Diskussion

In insgesamt 12 europäischen Ländern wurde in 47 Institutionen bei 72 verschiedenen Arten erfolgreich Blut abgenommen. Dazu gehörten neben vier Reptilien- auch drei Vogelarten und 65 Arten von Säugetieren. Eingesetzt wurde ausschließlich die Triatomine Dipalogaster maxima als „lebende Spritze“, da diese Art die höchste Aggressivität zeigte und die größte Blutmenge aufnahm. Bei der methodischen Anwendung im Zooalltag, um über gewonnene Blutproben die klassische Hämatologie zu untersuchen, erwiesen sich die Raubwanzen als sehr gut einsetzbar. Dabei war der Kaliumwert ein guter Richtwert, um die ggf. einsetzende Hämolyse der Probe beurteilen zu können. Auch der erstmalig nachgewiesene Glukoseabbau innerhalb des Wanzenmagens betont die Notwendigkeit des raschen Arbeitens.

Bei der genetischen Unterartbestimmung der Erdferkel fand sich zwar kein genetisches Muster, aber es bestätigte sich die Hypothese, dass die „lebenden Spritzen“ gut zur Probengewinnung eingesetzt werden können. Die Analyse auf verschiedene Tierseuchen – Brucellose, Tuberkulose, Malaria und Blauzungen-Krankheit – war erfolgreich und lieferte keine falschpositiven oder falschnegativen Nachweise. Die Stresshormon-Untersuchungen bestätigten die Vorteile der minimal invasiven Blutentnahme über Raubwanzen. Bei Ratten und Elenantilopen ist die Blutentnahme mittels Raubwanzen empfehlenswert, da sie relativ stressfrei ist. Problematischer waren bei den endokrinologischen Analysen die Progesteronanalysen, bei denen zwar die Konzentrationen erfolgreich bestimmt wurden, aber die Genauigkeit des Testverfahrens verstärkt mit konventionell entnommenem Blut verglichen werden musste, da bei Elenantilopen in 78 % der mit Raubwanzen gewonnenen Proben eine sechsfach höhere Konzentration vorlag.

Abb. 11 Einsatz der Spezialgefäße an einem weiblichen Okapi (Okapi johnstoni) im Wuppertaler Zoo. Foto: Zoo Wuppertal

Literatur
Die Literatur kann beim Verfasser angefordert werden.

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Alpenzoo Innsbruck-Tirol

https://www.alpenzoo.at/de

Weiherburggasse 37

A-6020 Innsbruck

Auch 2020 besteht – trotz Corona – noch Hoffnung auf einen Meeresurlaub. Die folgenden Beobachtungen von Gerhard Medicus mögen den meeresbiologischen Forschungsgeist der Leserinnen und Leser wecken! Leider werden nicht alle heuer die Möglichkeit haben, ans Meer zu fahren. Vielleicht dient dieser Beitrag auch als Inspiration, um eigene Beobachtungen als Bericht festzuhalten? Wir danken Gerhard Medicus für die Zusendung!

Naturbeobachtung fasziniert mich seit meiner Kindheit und Jugend und so habe ich diese Leidenschaft auch mit meinen Kindern ausgelebt. Besonders anziehend war die für mich fremde marine Welt. Einige Beobachtungen waren so eindrucksvoll, dass ich mich entschlossen habe, sie zu veröffentlichen – als Anregung für den Sommerurlaub von Leserinnen und Lesern des bioskop. Möglicherweise handelt es sich bei den an erster, dritter und vierter Stelle platzierten Berichten um Erstbeschreibungen. Die dritte und vierte Beobachtung verdanke ich der vorbehaltlosen Neugier meines Sohnes Thomas. Ein Teil der Beobachtungen erfolgten in einem Feldaquarium, das ich für die Kinder auch auf Fernreisen mitgenommen habe. Es ließ sich, in einer Kühlbox geschützt, bequem transportieren. Schnell schwimmende kleine Tiere habe ich mit einem Kescher gefangen (im Mittelmeer z.B. Rochen, Muränen, Schollen, Knurrhahn, Tintenfische usw.) und nach der Beobachtung wieder freigelassen.

1. Alonissos 1993: Tintenmimikry bei einem Cephalopoden

Als Schnorchler im Mittelmeer kann man frei schwimmenden Tintenfischen der Art Sepia officinalis immer wieder relativ gut folgen, bis sie sich im Sand eingraben und dann mit dem Kescher leicht zu fangen sind. Trotzdem verschwinden einige Individuen selbst bei guter Sicht schon vorher auf scheinbar unerklärliche Weise, und zwar stets nach dem Ausstoßen einiger Tintenwolken, auch dann, wenn der Meeresgrund mit seinen Versteckmöglichkeiten immer noch einige Meter weit entfernt ist.

Eine Hypothese dafür, wie die Tintenfische den Verfolger abschütteln, erhielt ich durch eine Aquarienbeobachtung: Ein Tintenfisch, der sich ruhig am Sandboden aufhielt, hat sich durch eine Bewegung von mir plötzlich bedroht gefühlt: während er mit  maximaler Geschwindigkeit gegen die Scheibe angeschwommen ist, hat er drei bis vier Tintenwolken ausgestoßen und sich dann plötzlich, wie auf Knopfdruck, für etwa eine halbe Sekunde selbst schwarz wie Tinte verfärbt, dann aber schlagartig wieder die hellere Umgebungsfärbung angenommen. Diese kurze Dunkelfärbung des Tintenfisches folgte dem drei- bis vierfachen „Tintenstakkato“ so, als handele es sich um eine letzte Tintenwolke.

Wenn man im Meer diesen letzten vermeintlichen Tintenausstoß nicht bewusst fixiert und zwischen echten und unechten Tintenwolken auch nur kurz vergleichend hin- und herschaut, hat man den fliehenden Tintenfisch schon aus den Augen verloren und sieht nur mehr die auffälligen echten Tintenwölkchen. Ich hatte den Eindruck, dass die Tintenfische unmittelbar nach dem Täuschungsmanöver nach Zufallsprinzip die Richtung ändern. Damit hat der Tintenfisch das Wahrnehmungsvermögen seines Verfolgers überlistet. Dieses Fluchtverhalten ist wohl als ein instinktives Programm angeboren, auch wenn die Tiere nicht immer dieses Täuschungsmanöver ausführen.

Anm.: Diese Beobachtung wurde auch in der Zeitschrift DATZ beschrieben: Medicus, G. (1995). Tintenmimikry bei einem Cephalopoden. DATZ, 48(3), 140.

2. Tauwema / Kaileuna / Trobriand Inseln / Papua Neuguinea 1996: Delfinpirsch in der Südsee

Während meiner drei mehrwöchigen Aufenthalte in Tauwema konnte ich als Schnorchler einmal in relativ großer Entfernung Delfine sehen, die ich wegen der Distanz nur auf Grund der Schwimmbewegungen von Haien unterscheiden konnte. Ich ging an die Grenze dessen, was Lunge und Kreislauf hergaben, um mich ihnen anzunähern, was mir aber zunächst nicht gelungen ist. Die Tiere hielten stets Abstand zu mir. Weil sie nicht einfach wieder verschwunden sind, waren auch sie höchst wahrscheinlich auf mich neugierig. Meine Annäherungsversuche als Schnorchler waren erst erfolgreich, als ich die Idee hatte, mit beiden Füßen parallel zu schlagen, wie mit einer Monoflosse. So kam ich bis auf zwei Delfinlängen an die Grazien des Meeres heran. Einzelne von ihnen „begutachteten“ mich einäugig indem sie sich zur Seite drehten. Mein damals achtjähriger Sohn, der das Schauspiel von der Wasseroberfläche aus verfolgt hat, meinte danach, dass sich die Delfine wohl spaßhalber so benommen hätten, wozu sie aber aus ethologischer Sicht mangels Theory of Mind nicht fähig sind.

3. Kreta, Süd-Küste 2001: Tritonshorn-Angriff auf Seestern

Mein Sohn hat beim Schnorcheln den Zusammenhang zwischen “invaliden” roten Seesternen (Echinaster sepositus) und einem Tritonshorn (Charonia tritonis) erkannt und nicht nur das Tritonshorn mitgenommen, sondern auch einen intakten Seestern. Zurück an der Oberfläche ruft er mir am Strand zu: „Aquarium“. Ich komme ihm mit dem Aquarium entgegen, er legt beide Tiere hinein und wir stellten es auf einem Felsen ab. Nach weniger als einer Minute greift das Tritonshorn den Seestern an, der in etwa innerhalb einer halben Minute proximal von dem Biss den Arm abgeschnürt und abgeworfen hat.

4. Azoren 2001: Delfinbeobachtung

 Delfine findet man in den Weiten des Meeres relativ leicht dort, wo sich viele Möwen über der Wasseroberfläche sammeln und sich ins Wasser stürzen, um Fische zu fangen. So weisen die Möwen den Weg zu einem Fischschwarm, der von Delfinen auf engsten Raum unter der Wasseroberfläche zusammengetrieben worden ist. Hat man den Ort mit einem Motorboot erreicht, kann man diese eleganten und faszinierenden Tiere (Stenella coeruleoalba) bequem aus nächster Nähe beobachten. Mein damals 12-jähriger Sohn machte dann auf Grund seiner Unbefangenheit etwas, worauf ich auf Grund meiner Erwachsenen-Vorurteile nicht gekommen wäre: er versuchte, nach einzelnen Fischen im Makrelenschwarm (Trachurus picturatus) zu greifen, was zunächst ihm und dann auch mir wegen der Erschöpfung und Panik der (unverletzten) Tiere tatsächlich gelang. Die Fische werden praktisch ausweglos, gleichzeitig aus Wasser und Luft gejagt. Um der Gefahr zu entkommen fliehen sie ins Zentrum des Schwarms, wodurch der Schwarm zu einer sich verausgabenden, sich ständig selbst neu formenden kompakten Futterkugel für die Beutegreifer wird. Die sättigende Endhandlung ist also für die Delfine (anthropomorph ausgedrückt) ein entspanntes gemütliches Ereignis und auch für die Möwen ein „leichtes Spiel“. Viele Fische trugen von den Schnabelhieben der Möwen Verletzungen davon, möglicherweise auch deshalb, weil einzelne Fische den Möwen zu groß gewesen sind.

5. Hurghada 2006: “Einladung” zur Koprophagie im Roten Meer

Ein Seekuhbulle, den ich beim Abweiden von Seegras stundenlang beobachten konnte, stellte sich plötzlich im ca. 7 m tiefen Wasser 30-40 Grad schräg zwischen Boden und Oberfläche und verharrte in der Position. Nach wenigen Sekunden schießen zwei Schiffshalter (Echeneis naucrates) zum Anus des Bullen, der in dem Moment mit der Defäkation beginnt und so den Schiffshaltern ermöglicht, direkt von dort die voluminösen Faeces hinunterzuwürgen. Nach getanem Geschäft wälzt sich der Bulle am Boden, um die Schiffshalter abzuschütteln. Koprophagie ist weit verbreitet und auch vom Schiffshalter bekannt (Williams et al. 2003); offensichtlich sind die (vor-) verdauten „Speisereste“ nicht nur für Darmparasiten nahrhaft. Meine Kinder und ich konnten in Namibia Warzenschweine beobachten, die Elefantenkot vertilgt haben. Aus ethologischer Sicht bemerkenswert ist die zwischenartliche Sender-Empfänger-Abstimmung: Was aber ist der Anpassungswert für die Seekuh, die das Putzaufforderungs-Signal (30-40 Grad Schrägstellung) gibt? Es könnte sein, dass damit die Wahrscheinlichkeit einer Re-Infektion mit ihren Darmparasiten vermindert wird, wenn die Parasiten die Darmpassage beim Schiffshalter nicht überleben oder abseits der Weidegründe der Seekuh landen.

Titelbild: Klaus Oeggl, Paläoökologe am Institut für Botanik, der Universität Innsbruck (Credit: Klaus Oeggl)

Wie haben sich die Menschen in der Jungsteinzeit ernährt und was kann uns Paläobiologie über die Gegenwart erzählen? Im Rahmen unseres Schwerpunktthemas Paläontologie widmen wir uns der jüngeren, hauptsächlich nicht fossilen Vergangenheit.

Experte für solche Fragen ist Klaus Oeggl, wissenschaftlicher Beirat der ABA und seit 2011 Professor für Palynologie (Pollenanalyse) und Archäobotanik an der Universität Innsbruck. Als Paläoökologe beschäftigt er sich intensiv mit den Wechselwirkungen zwischen Menschen und Umwelt in der Vergangenheit. Die Paläoökologie versucht die Zusammenhänge zwischen Umwelt, Klima und Mensch zu verstehen, in dem sie Umwelt- und Klimaveränderungen der Vergangenheit beleuchtet. Die Beantwortung von Fragen, wie „Wie hat sich die Umwelt entwickelt?“ und „Wie ist im Lauf dieser Entwicklung die heutige Umwelt entstanden?“ ist für eine Einschätzung zukünftiger Vegetations-, Klima- und Landschaftsentwicklungen hoch relevant.

Ötzi („Mann vom Tisenjoch/Hauslabjoch/aus dem Eis“) ist eine Gletschermumie, die 1991 in den Ötztaler Alpen entdeckt wurde. Besonders bekannt machten Klaus Oeggl seine Forschungen zur neolithischen (=jungsteinzeitlichen) Gletscherleiche Ötzi, die 1991 am Tisenjoch an der heutigen österreichisch-italienischen Grenze gefunden wurde. In einem Interview erzählt er uns, welche Lebensweisen und Ernährungsgewohnheiten die Menschen in der Jungsteinzeit hatten, wie sich diese von den heutigen Gewohnheiten unterscheiden und wie uns die Paläobiologie helfen kann die aktuellen Veränderungen und deren zukünftige Auswirkungen zu verstehen.

Ötzi („Mann vom Tisenjoch/Hauslabjoch/aus dem Eis“) ist eine Gletschermumie, die 1991 in den Ötztaler Alpen entdeckt wurde.

Vielen herzlichen Dank, Prof. Oeggl, dass Sie sich für dieses Interview Zeit nehmen! Sie haben Ötzis Mageninhalt untersucht. Was kann uns das über die Ernährungsgewohnheiten und Lebensweise von Menschen in der Jungsteinzeit erzählen?

Generell muss man sagen, dass der gesamte Magendarminhalt untersucht wurde. Dieser ermöglicht es uns Aussagen über die Ernährungsweise des Eismanns zu treffen. Da wir sequenzielle Proben entlang des gesamten Magendarmtrakts genommen haben und wissen, welche Transitzeiten der Speisebrei durch den Verdauungstrakt hatte, können wir auf die Zeitabfolge schließen, in der der Eismann die Speisen zu sich genommen hat. Somit können wir rekonstruieren, was der Eismann in seinen letzten 33 Stunden gegessen hat. Das ist wirklich sensationell! Zudem sind im Speisebrei Pollen aus der Umwelt erhalten geblieben, wodurch wir sagen können, wo der Eismann in diesen letzten Stunden seine Speisen zu sich genommen hat und um welche Saison im Jahr es sich gehandelt hat.

Und was hat Ötzi gegessen? Was waren seine Ernährungsgewohnheiten?

Gegessen hat er mannigfaltig. Grundsätzlich ist zu sagen, dass er eine omnivore Diät hatte. Vom Rektum bis hin zum Dünndarm haben wir Fleisch, Gemüse und eine mehlartige Speise gefunden, die als Brot interpretiert wird. Im Magen hingegen überwog das Fett. Daraus können wir schließen, dass Ötzis letzte Mahlzeit primär Fett dominiert war. Fett hat neben Kohlenhydrate die höchstmögliche Energieklasse. Das nehme ich zu mir, wenn ich eine lange anstrengende Arbeit vor mir habe. Etwas Ähnliches kennen wir von den Bauern, wenn wir 50 Jahre zurückgehen – ein Melchermus (bäuerliches Gericht für hart arbeitende Leute aus Butter, Mehl, Milch und Salz, Anm.).

Im Fall des Eismanns war es wirklich großes Glück, dass der Magendarminhalt so gut erhalten war. Leider hat man nicht immer eine so gut erhaltene Mumie zur Verfügung. Wie geht man dann vor, um Hinweise über die Lebensweise von Menschen in der Vergangenheit zu bekommen?

Paläoökologen bei der Arbeit: Pollen und Großreste aus Bohrkernen können Auskunft über die menschliche und landschaftliche Entwicklung geben. Moore sind hervorragende Archive unserer Vergangenheit.

Paläoökologen bei der Arbeit: Pollen und Großreste aus Bohrkernen können Auskunft über die menschliche und landschaftliche Entwicklung geben. Moore sind hervorragende Archive unserer Vergangenheit.Mumien nehmen in der Forschung tatsächlich einen besonderen Status ein, da sie in der Regel gut erhalten sind. Allerdings ist nicht in jeder Mumie der Magendarmtrakt vorhanden. Mumien wurden meist artifiziell mumifiziert und einbalsamiert, wobei der Magendarminhalt entnommen wurde. Diese wichtige Informationsquelle fehlt dann leider! Wenn der Magendarmtrakt jedoch vorhanden ist, ist dessen Untersuchung die Methode erster Wahl und es können sogar Stoffwechselprodukte analysiert werden. Diese wurde auch bei der um einiges jüngeren Leiche Kwäday Dän Ts’ìnchi aus British Columbien angewandt, die auf die Zeit zwischen 1450-1700 n. Chr. datiert wird.

Weitere Aufschlüsse über die Lebensweise und Ernährung der steinzeitlichen Menschen können auch die Analyse von Pollen, Großresten und stabile Isotopen geben. In jüngerer Zeit wird auch Ancient DNA (DNA aus toten Organismen, meist älter als 100 Jahre, Anm.) herangezogen.

Welche Parallelen sehen Sie zur Ernährung und zur Lebensweise der heutigen Menschen? Oder gibt es fast nur Unterschiede?

Man muss wohl sagen, dass es mehr Unterschiede gibt. Einige Parallelen lassen sich aber doch festhalten: Es gab damals wie heute eine omnivore Ernährungsweise. Wenn wir nun die einzelnen Bestandteile der Nahrung vergleichen und vom Generellen ins Detail gehen, sehen wir, dass die letzten fünf Mahlzeiten von Ötzi immer das Gleiche waren: Fleisch, Kohlenhydrate und ein wenig Gemüse. Beim Fleisch gibt es kleine Unterschiede, eine Mahlzeit war vom Steinbock und eine vom Rothirsch. Das war dann aber schon die gesamte Variabilität. Im Großen und Ganzen bestimmte Verfügbarkeit und Monotonie die Ernährung der Menschen zu Ötzis Zeiten. Heute hingegen, kann die Ernährung so mannigfaltig sein, wie wir es uns nur vorstellen können.

Dies ist nur möglich, da es uns von der Versorgung her so gut geht, wie nie zuvor. Es gibt zu keiner Jahreszeit irgendwo einen Engpass, den wir erkennen können, an dem wir einen Mangel leiden würden. Das ist in der Vergangenheit sicher nicht der Fall gewesen. Ernährung war in der Vergangenheit zweckorientiert und durch Verfügbarkeit bestimmt, aber nicht danach ausgerichtet, was könnte ich heute anderes essen als gestern.

Ein wesentlicher Unterschied in der Ernährung der steinzeitlichen Menschen zu heute besteht aber vor allem im Gehalt der Ballaststoffe. Die Ernährung der damaligen Zeit war deutlich ballaststoffreicher.

Eine ballaststoffreiche Kost hat keinen so hohen Nährwert, wo liegt hier die Zweckmäßigkeit?

In diesem Fall geht es nicht um den Nährwert, sondern um das Sättigungsgefühl. Damit wir satt werden, brauchen wir Ballaststoffe, und das ist ein wesentlicher Punkt. Das ist etwas, was wir in der heutigen Ernährung nicht schätzen. Wir wollen keine Lebensmittel, die besonders faserreich sind, sondern wir wollen Gemüse, das besonders zart und etioliert ist (durch Dunkelheit hervorgerufenes Wachstum: Pflanzen ohne nennenswertes Festigungsgewebe, schwach, biegsam, Anm.). Wir wollen kein verholztes Gemüse, das schmeckt uns nicht und das lehnen wir ab. Vollkornprodukte sind erst seit jüngster Zeit wieder verstärkt en vogue.

War das früher anders?

Früher gehörten Vollkornprodukte zur Ernährung der gemeinen Leute und nicht das hochprozessierte Weizenweißmehl und Weißbrot. Allerdings ist das Weißmehl gar nicht so günstig für die Verdauung, da man dort einen starken Mangel an Ballaststoffen hat. So wird heute schon von amerikanischen Medizinern empfohlen dem täglichen Essen 10 Gramm Kleie hinzuzufügen, damit wir wieder ausreichend Ballaststoffe haben. Nur so kann eine natürliche Peristaltik aufrechterhalten werden und die Transitzeiten des Speisebreis im Magen bleiben im normalen Rahmen. Je weniger Ballaststoffe wir haben, desto länger ist die Verweilzeit des Speisebreis im Darmtrakt.

Das Prozessieren des Weizens und der Lebensmittel ist eine Sache, man hat früher aber einfach auch nur das essen können, was zur Verfügung war. Da brauchen wir gar nicht so weit in die Vergangenheit schauen. Im Tiroler Raum gibt es das alte Volkslied „Heut‘ ist Knödeltag“ und dann zählt man sämtliche Knödel für die gesamte Woche auf. Das zeigt dann eigentlich schon, dass permanent das Gleiche gegessen wurde. Da sehen Sie eine ziemlich monotone Ernährung. Es gab zu essen, was vorhanden war.

Lebten die Menschen zu Ötzis Zeiten mehr im Einklang mit der Natur als heute? Welche Unterschiede sind besonders stark erkennbar?

Die Menschen waren der Umwelt natürlich sehr nahe und ausgesetzt. Die Ethnien dieser Zeit hatten eine Subsistenzwirtschaft (=Bedarfswirtschaft, Anm.), das heißt sie mussten sich alles selbst erwirtschaften, was sie konsumierten. Der Handel war in diesem Zusammenhang eher sekundär. Das sehen wir auch in Ötzis Ernährung: Einkorn als auch die Gerste konnten unmittelbar angebaut werden und das Fleisch von Steinbock oder Rothirsch wurde selbst erjagt. Die größten Unterschiede zu heute ergeben sich wohl dadurch, dass sich die Urzeitmenschen alles selbst aus dem unmittelbaren Umfeld erwirtschaften und holen mussten.

Welche Rolle spielt die Paläobiologie, also salopp gesagt die Untersuchung der biologischen Vergangenheit, um die aktuellen Veränderungen in den Lebensräumen und deren zukünftige Auswirkungen zu verstehen?

Wenn wir die heutige Kulturlandschaft betrachten, steckt dahinter eine gewaltige Entwicklungsgeschichte. Diese Entwicklung gilt es mit den Untersuchungen der Vergangenheit zu erleuchten. Interessant ist, dass man die Genese nicht monofaktoriell sehen kann, sondern, dass sowohl der Faktor Mensch als auch der Faktor Klima einen Einfluss auf die Vegetation haben und diese strukturieren. Damit sind wir bei dem interessanten Bereich, dass wir Veränderungen haben, die durch den Menschen und durch das Klima ausgelöst werden. Für die heutigen Veränderungen ist dies höchst interessant, weil wir Analoga in der Vergangenheit suchen und analysieren können.

Es gibt genügend Beispiele für Zivilisationskollapse in mehreren Formen: Bereits im Neolithikum kennt man einen derartigen Zivilisationskollaps. Auch in der Bronzezeit und dann in Mesoamerika von den Mayas. Das Zusammenspiel von Klima und menschlicher Beeinflussung ist in Bezug auf den anthropogenen Treibhauseffekt hoch aktuell. Wir können Modellversuche der „Natur in der Vergangenheit“ betrachten und detailliert untersuchen. In der Vergangenheit kennen wir die Ergebnisse bereits, eine Kultur ging zu Grunde. Für unsere Zukunft kennen wir den Ausgang der Entwicklung freilich nicht!

Und worauf führt man diesen Zivilisationskollaps zurück? Auf das Klima, auf den Menschen?

Bei den Mayas war es wohl der Faktor, der immer ganz besonders gravierend wirkt: Trockenheit und Trockenphasen. Diese Trockenphasen zwingen die Menschen zu einer Minimierung der Entwicklung und teilweise dann auch zur Aufgabe des gesamten Territoriums.

Was haben wir in Zukunft zu erwarten und was sollten wir tun, damit uns kein solcher Zivilisationskollaps droht?

Wir wissen, die Erde erwärmt sich. Wir wissen aber genauso, dass wir mehr oder weniger am Ende einer Warmzeit sind und unklar ist, wie sich dies weiterentwickeln wird. Grundsätzlich ist es natürlich so, dass der anthropogene Anteil an der Erwärmung minimiert gehört und wenn man so will, auch bekämpft gehört. Die Reduktion der anthropogenen Treibhausgase und der nachhaltige Umgang mit Ressourcen sind die wesentlichen Punkte, damit unsere Zivilisation auch länger überdauern kann. Bei einem gezielten menschlichen Eingreifen in das Gesamtklimageschehen, wie dies beim Geoengineering (→ siehe Infokasten) überlegt wird, habe ich jedoch große Bedenken. Dann haben wir ein rein anthropogenes Klima, in dem wir entscheiden, ob wir es wärmer oder kälter haben wollen, so als würden wir eine Klimaanlage einschalten. Ein Eingreifen in Naturkreisläufe führt zwangsläufig zu ähnlichen Diskussionen wie damals, als es um die Errichtung der ersten Nationalparks ging: Wie wollen wir die Natur beeinflussen, soll sie freien Lauf haben oder wollen wir sie selbst steuern?

Nun ja, eine solche Beeinflussung des Klimas durch den Menschen ist derzeit ja noch große Zukunftsmusik und technisch nicht realisierbar. Es scheint jedenfalls, dass für die weiteren Entwicklungen in der Zukunft noch viel offen und unklar bleibt. Sie haben uns aber gezeigt, dass uns ein Blick in die Vergangenheit die Augen für unser heutiges Leben öffnen kann und uns die heutigen Geschehnisse besser verstehen lässt.
Ich möchte mich nochmals herzlich für dieses sehr spannende Gespräch bedanken und wünsche gutes Vorankommen in diesem interessanten Forschungsfeld!

Geoengineering

Geoengineering bezeichnet großräumige Eingriffe mit technischen Mitteln in geochemische oder biogeochemische Kreisläufe der Erde. Als Ziele derartiger Eingriffe werden hauptsächlich das Stoppen der globalen anthropogenen Klimaerwärmung, der Abbau der CO2-Konzentration in der Atmosphäre oder die Verhinderung einer Versauerung der Meere genannt.

Weiterführende Literatur
Bortenschlager, S. & Oeggl, K. 2000: The Iceman and his Natural Environment: Palaeobotanical Results. Springer Verlag – Wien.

Titelbild: Seeigel und Schnecken im Roten Meer. Quelle: Andreas Kroh

Andreas Kroh

Seit 2005 Forscher und Kurator an der geologisch-paläontologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien. Zu seinen Aufgaben zählen neben der Forschung auch Sammlungsbetreuung und Ausstellungsgestaltung, sowie die Pflege und Weiterentwicklung der Inventardatenbanken. Seit 2006 ist er auch der Chefredakteur der Annalen des Naturhistorischen Museums, Serie A, einer der wissenschaftlichen Zeitschriften des NHM. Im Jahr 2018 übernahm er zusätzlich zu seinen anderen Aufgaben die Gesamtleitung des Verlages des NHM Wien und ist in diesem Rahmen für die Planung, Produktion und den Vertrieb der vom NHM Wien herausgegebenen Bücher verantwortlich, darunter eine Fülle von Büchern mit biologischen Inhalten, wie die Naturführer des NHM.

1) Beschreibe bitte kurz Deinen Arbeitsalltag. Was sind Deine Hauptaufgaben?

Meine Aufgaben am NHM Wien sind äußerst vielfältig: neben meiner Forschung und der Betreuung eines Teils der paläontologischen Sammlung des Museums kümmere ich mich vor allem um redaktionelle und technische Belange. So sorge ich dafür, dass die interaktiven Stationen im Bereich unserer geologischen und paläontologischen Ausstellung immer einsatzbereit sind und helfe GastforscherInnen wie KollegInnen beim Umgang mit unserer Inventardatenbank. Im Rahmen meiner Tätigkeit als Redakteur der Annalen und Leiter des Verlags des NHM Wien betreue ich diverse Zeitschriften und Bücher des Museums von der ersten Idee bis zum fertig gedruckten Werk. International bin ich auch stark in WoRMS, dem World Register of Marine Species, involviert. Dort bin ich für die Taxonomie, Nomenklatur und Systematik der Seeigel zuständig und derzeit Vice-Chair des WoRMS Steering Committee.

2) Was gefällt Dir an Deinem Job am meisten?

Durch die große Fülle an verschiedenen Aufgaben ist mein Arbeitsalltag sehr abwechslungsreich und ich arbeite mit vielen verschiedenen Menschen zusammen – sowohl international, im Rahmen meiner Forschungen, wie auch national und abteilungsübergreifend innerhalb des Museums bei der Produktion von Büchern und Gestaltung von Ausstellungen. Ich liebe neue Herausforderungen und die Vielfalt an unterschiedlichen Tätigkeiten, die meine Arbeit am Museum mit sich bringt. In einem tollen Team, wie dem des Museums, zu arbeiten macht viel Freude. Viele nationale, aber auch internationale KollegInnen wurden über die Jahre zu FreundInnen und es macht Spaß, diese bei Konferenzen wieder zu treffen oder gemeinsam im Gelände oder in Sammlungen zu forschen.

3) Was gehört zu den schwierigsten Dingen in Deinem Beruf? Was sind für Dich die größten Herausforderungen?

Am schwierigsten ist es, alle verschiedenen Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen und in allen Teilbereichen meiner Tätigkeit einen konstanten Fortschritt zu erzielen. Im „Endspurt“ eines Ausstellungs- oder Buchprojekts kann es durchaus vorkommen, dass es erforderlich ist, sich mehrere Tage ausschließlich auf das jeweilige Projekt zu konzentrieren und andere Tätigkeiten kurzfristig zurückzustellen. Eine weitere große Herausforderung ist die immer schwieriger werdende gesetzliche Situation bei der Geländearbeit, sei es im geologisch-paläontologischen Bereich oder im Bereich von DNA-Proben rezenter Organismen. Die Fülle lokaler Regelungen, nationaler und internationaler Gesetze ist für den/die einzelne/n ForscherIn kaum durchschaubar, AnsprechpartnerInnen bzw. zuständige Genehmigungsstellen sind nicht immer klar definiert oder nicht erreichbar. Materialbezogene Forschung, die Proben aus verschiedensten Ländern benötigt, ist daher meiner Erfahrung nach wesentlich schwieriger und aufwändiger in der Umsetzung geworden.

4) Wie bist Du auf diesen Job aufmerksam geworden?

Ich arbeitete schon während meiner Diplomarbeit und Dissertation wissenschaftlich mit einzelnen MitarbeiterInnen des NHM Wien zusammen und hatte bereits lange bevor ich zu studieren begann den Wunsch, hier zu arbeiten. Meine erste Bekanntschaft mit WissenschafterInnen des NHM Wien war während meiner Jugend, als ich mich an einen meiner Vorgänger, Ortwin Schultz, wandte, um Hilfe bei der Bestimmung von fossilen Haifischzähnen zu erhalten.

5) Welche Qualifikationen sind für Deine Tätigkeit besonders wichtig?

Flexibilität, der Wille neue Techniken und Fähigkeiten zu erlernen, sich und seine Ergebnisse präsentieren zu können und fähig zu sein, im Team zusammenzuarbeiten sind entscheidend in meinem Beruf. Eine sehr gute Kenntnis der englischen Sprache ist heute eine weitere Grundvoraussetzung für NaturwissenschafterInnen.

6) War es schon immer Dein Wunsch eine Arbeit dieser Art auszuüben oder hattest Du früher andere Berufswünsche?

Bereits als kleines Kind grub ich in einem von meinen Eltern gepachteten Garten nach Mammutknochen (ohne natürlich welche zu finden). Anfangs unterschied ich nicht zwischen der Tätigkeit von ArchäologInnen und der von PaläontologInnen, später jedoch zog es mich immer mehr zu den Fossilien hin. Unterstützt von meinen Eltern (an dieser Stelle sei ihnen herzlichen Dank dafür ausgesprochen!), konnte ich dem Hobby Fossiliensammeln in meiner Jugend intensiv nachgehen und viele Urlaubsziele wurden wegen der Möglichkeit, dort Fossilien zu finden, ausgewählt. Auch mein Biologielehrer in der Oberstufe, Herr Gerhard Deimel, unterstützte mein Interesse tatkräftig. Kurzfristig erwog ich auch ein Chemie-Studium, denn mein Chemielehrer, Herr Ralf Becker, konnte im Rahmen der Chemie-Olympiade meine Begeisterung für dieses Fach wecken. Letztlich gab aber ein Besuch beider Institute und ein Treffen mit Norbert Vavra, der damals am Institut für Paläontologie tätig war, den Ausschlag, dass ich meinem ursprünglichen Wunsch folgend Paläontologie studierte.

7) Wie siehst Du die Arbeitsmarktsituation in Deinem Umfeld? Wie stehen die Jobaussichten für BiologInnen?

Wie in vielen Bereichen der Grundlagenforschung ist es im Bereich der Biowissenschaften nicht einfach eine Anstellung zu finden. Nicht, weil es nicht genug Arbeit und Fragestellungen gäbe, sondern vor allem, weil die öffentlichen Mittel für die Grundlagenforschung leider sehr begrenzt sind. Wer aufgrund finanzieller Erwartungen in die Wissenschaft geht, wird wohl enttäuscht werden. Wer jedoch mit Begeisterung und Überzeugung an die Sache herangeht, wird automatisch bessere Leistungen erbringen, sich und seine Tätigkeit besser „verkaufen“ können und höchstwahrscheinlich erfolgreicher sein. Oft ist dafür allerdings ein „langer Atem“ und ein gehöriges Maß an Mobilität und Flexibilität nötig, was für die Familienplanung eine Herausforderung sein kann.

8) Ist ein Biologiestudium für Deine Position notwendig, welche anderen Ausbildungen wären hilfreich?

Nein, da ich nicht als Biologe, sondern als Paläontologe angestellt bin, auch wenn sich ein großer Teil meiner Forschung derzeit im Bereich der Evolutionsforschung, Phylogenetik und -genomik abspielt. Ein naturwissenschaftliches Studium im generellen hingegen, ist entscheidend und bildet die Grundlage für eine wissenschaftliche Karriere in diesem Bereich.

9) Welche Inhalte des Biologiestudiums benötigst Du in Deinem Berufsalltag am häufigsten?

Am wesentlichsten sind hier wohl die generellen Grundkenntnisse über die Fülle an Organismen, ihre Morphologie, Diversität, Ökologie usw., die mir im Rahmen meines Paläontologiestudiums vermittelt wurden. Ebenso entscheidend für das Verständnis von Evolution und der Veränderung des Planeten Erde durch die Zeit waren die Grundlagen der Geologie, Sedimentologie und Stratigraphie – da diese ein ganz anderes Verständnis der „Deep Time“ ermöglicht haben, als wenn ich ein Biologiestudium absolviert hätte. Darüber hinaus habe ich einen Großteil der Fähigkeiten, die ich tagtäglich in meinem Beruf benötige, erst später im Berufsalltag erlernt. Und das Lernen hört nicht auf, denn ständig werden neue Methoden und Programme entwickelt, die für meine Forschung wesentlich sind, oder neue Sachverhalte entdeckt, die früher erhobene Daten in neuem Licht erscheinen lassen.

10) Was würdest Du Biologiestudierenden raten, die sich für einen ähnlichen Job interessieren?

Sei neugierig, folge deinen Interessen und lass dir die Freude an der Wissenschaft nicht nehmen. Denn nur, wenn du begeistert bist und die Forschung aus innerem Antrieb machst, wirst du erfolgreich sein und berufliche Durststrecken überdauern können – denn sehr oft ist in der Forschung Ausdauer gefragt, mal weil sich die erwarteten Ergebnisse nicht einstellen, mal weil ein Antrag oder Manuskript abgelehnt wird, oder es schwierig sein kann, einen Arbeitsplatz zu bekommen.

Vielen Dank für das Interview!