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Titelbild: Platzertal (Foto: Christoph Praxmarer)

40 Umweltvereine und Wissenschafter:innen fordern Ausbau-Stopp für Kraftwerk Kaunertal – Tiroler Landesregierung muss die letzten intakten Alpenflüsse schützen und naturverträgliche Energiewende umsetzen.

Insgesamt 40 Umweltvereine und Stimmen aus der Wissenschaft fordern in einer gemeinsamen Erklärung den Stopp des Ausbaukraftwerks Kaunertal. Stattdessen müsse die Tiroler Landesregierung die letzten intakten Alpenflüsse schützen und eine konsequent naturverträgliche Energiewende umsetzen. „Dieses Großprojekt steht wie kein anderes für die völlig überzogene Ausbaupolitik der TIWAG. Wir brauchen eine naturverträgliche Energiewende statt weiterer Verbauung alpiner Naturräume“, mahnt Bettina Urbanek, Gewässerschutzexpertin des WWF Österreich. Für das Projekt plant die TIWAG bis zu 80 Prozent des Wassers aus dem Ötztal, einem der niederschlagsärmsten Täler Tirols, auszuleiten und im ökologisch einzigartigen Platzertal einen 120 Meter hohen Staudamm zu errichten und dahinter neun Fußballfelder Moorflächen zu fluten. „Das hätte verheerende Folgen für die hochsensible Naturlandschaft, würde wichtige Lebensräume zerstören und die Biodiversitätskrise befeuern.“

Frei fließende Bäche und Flüsse zählen zu den wertvollsten Lebensräumen weltweit – auch in den Alpen. Dennoch werden diese letzten Wildflüsse verbaut und somit zu den Verlierern einer verfehlten Energiepolitik“

Prof. Dr. Klement Tockner, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

„Frei fließende Bäche und Flüsse zählen zu den wertvollsten Lebensräumen weltweit – auch in den Alpen. Dennoch werden diese letzten Wildflüsse verbaut und somit zu den Verlierern einer verfehlten Energiepolitik“, kritisiert Prof. Dr. Klement Tockner, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und fährt fort: „Wasserkraft ist zwar eine erneuerbare aber keinesfalls eine umweltfreundliche oder klimaneutrale Energiequelle. Durch den geplanten Ausbau des Kraftwerks Kaunertal würden vier bisher noch weitgehend intakte Alpenflüsse zu Rinnsalen degradiert.“ Das verändere den Wasserhaushalt einer ganzen Region – mit gravierenden Folgen für Natur und Mensch.

GLOBAL 2000 Geschäftsführerin Agnes Zauner fordert anstelle des Ausbaus eine naturverträgliche Energiewende: „Der jüngste Bericht des Weltklimarates hat eindrücklich gezeigt, dass wir die Klima- und Biodiversitätskrise nur mit Hilfe der Natur bewältigen können. Es geht jetzt darum, wertvolle Naturräume zu schützen und die Energiewende naturverträglich voranzutreiben.“ Dazu gehöre in Tirol ein Schwerpunkt auf Einsparung von Energie, den Photovoltaik-Ausbau und den Austausch von Öl- und Gas-Heizungen gegen Fernwärme, Wärmepumpen und Solarenergie. „Nur so kann Tirol unabhängig von Öl, Gas und Kohle werden.“

„Zusätzliche Speicher müssen unbedingt naturverträglich realisiert werden. Dass das möglich ist, zeigen andere Projekte. Sie funktionieren als geschlossene Systeme, benötigen keine neuen Naturflächen und verursachen keine zusätzliche Schwallbelastung in Flüssen“, ergänzt Bettina Urbanek vom WWF.

Ausbaupläne für das Kraftwerk Kaunertal (Bild: WWF)

Das Kaunertal war früher das Tal der Wasserfälle.

Anita Hofmann, Verein Lebenswertes Kaunertal

Naturgefahren durch Naturzerstörung

Das Kraftwerk Kaunertal zeige bereits in seiner derzeitigen Form das Ausmaß der Naturzerstörung und der Beeinflussung der Menschen im Kaunertal, schildert Anita Hofmann vom Verein Lebenswertes Kaunertal: „Das Kaunertal war früher das Tal der Wasserfälle. Doch seit dem Bau des Kraftwerks liegen unsere ehemaligen Almböden unter Wasser und die sprudelnden Seitenbäche sind versiegt. Wir können und wollen keine weitere Naturzerstörung zulassen.” Besorgt zeigte sich Hofmann auch beim Thema Naturgefahren: „Wir leben seit Jahren mit der Sorge vor einer Hangrutschung beim bereits bestehenden Gepatschstausee. Der Ausbau des Kraftwerks mit Pumpspeicherbetrieb würde dieses Risiko noch weiter erhöhen, da die Gefahr besteht, dass die umliegenden Hänge durch das ständige Fluten und Leeren stärker in Bewegung kommen.” Darüber hinaus drohe der Bau auch den für das Kaunertal so wichtigen, nachhaltigen Tourismus zu gefährden. „Der Ausbau bedeutet für uns massive Großbaustellen mit enormen Deponieflächen, die Naturräume zerstören. Hinzu kommen jahrelange Lärm- und Verkehrsbelastungen mit zahllosen LKW-Fahrten, die jeden Tag das Tal hinaufkeuchen sowie eine signifikante Verschlechterung der Luftqualität.”

Über die Kaunertal-Erklärung 2022

Die vom WWF Österreich initiierte Kaunertal Erklärung wird unterstützt von 30 Organisationen aus den Bereichen Umwelt-, Natur- und Klimaschutz, Fischerei und Wildwassersport. Darunter sind der Verein Lebenswertes Kaunertal, GLOBAL 2000, der Naturschutzbund, der Alpenverein, Fridays for Future Innsbruck, WET Tirol, das Österreichische Kuratorium für Fischerei und Gewässerschutz, die Austrian Biologist Association (ABA) und zahlreiche weitere. Dazu kommen 10 Stimmen aus der Wissenschaft.

Mehr Informationen:
www.fluessevollerleben.at/kaunertal

Vollständige Auflistung der unterstützenden Organisationen (alphabetisch):

Organisationen

  • ABA Austrian Biologist Association
  • Alpenverein Österreich
  • Austrian Youth Biodiversity Network
  • Bayerische Einzelpaddler-Vereinigung e.V.
  • Bayerischer Kanu Verband e.V.
  • Birdlife Österreich
  • BUND Naturschutz in Bayern e.V.
  • EuroNatur Stiftung
  • Forum Wissenschaft & Umwelt
  • Free Rivers Fund
  • Fridays for Future Innsbruck
  • Generation Earth
  • GLOBAL 2000
  • LBV Landesbund für Vogelschutz Bayern
  • Living European Rivers Initiative
  • Naturfreunde Österreich
  • Naturschutzbund Österreich
  • ÖKF FishLife Österreichisches Kuratorium für Fischerei und Gewässerschutz
  • Ökobüro – Allianz der Umweltbewegung
  • Patagonia
  • Riverwalk
  • Riverwatch
  • Save our Rivers
  • The River Collective
  • Umweltdachverband
  • Verein Lebenswertes Kaunertal
  • VÖAFV Verband der Österreichischen Arbeiter-Fischerei-Vereine
  • WET – Wildwasser erhalten Tirol
  • WWF European Policy Office, Brüssel
  • WWF Österreich

Wissenschafter:innen

  • Franz Essl; Ao.Univ-Prof. Mag. Dr., Department für Botanik und Biodiversitätsforschung – Universität Wien
  • Leopold Füreder; Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr., Institut für Ökologie – Universität Innsbruck
  • Armin Landmann; Univ.-Doz. Mag. Dr., Institut für Zoologie – Universität Innsbruck
  • Susanne Muhar; Ao.Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr., Inst. für Hydrobiologie und Gewässermanagement – Universität für Bodenkultur
  • Birgit Sattler, Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr., Institut für Ökologie – Universität Innsbruck
  • Gabriel Singer; Univ.-Prof. Mag. Dr., Institut für Ökologie – Universität Innsbruck
  • Klement Tockner; Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt; Generaldirektor Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
  • Roman Türk; Univ.-Prof. i.R. Dr., – Präsident Naturschutzbund Österreich
  • Peter Weish; Univ.Doz. Dr., Institut für Zoologie – Universität für Bodenkultur
  • Steven Weiss; Ao.Univ.-Prof. Dr., Institut für Biologie – Karl-Franzens Universität Graz

Titelfoto: Baustelle im Längental. Foto: Anna Schöpfer

Für die Erweiterung der Kraftwerksgruppe Sellrain-Silz wird das Längental in den Stubaier Alpen zerstört und Wasser aus mehreren Gebirgsbächen abgeleitet – ABA kritisiert Naturzerstörung und die mangelnde Berücksichtigung von EU-Umweltrichtlinien und Alpenkonvention.

Seit Mai hat Tirol eine neue Großbaustelle im Hochgebirge. Über 800 Millionen Euro kostet die unter dem Projektnamen Speicherkraftwerk Kühtai bekannte Erweiterung der Kraftwerksgruppe Sellrain-Silz. Neben einem neuen Pumpspeicherkraftwerk umfasst das Projekt der Tiroler Wasserkraft AG (TIWAG) die Neuanlage eines Speicherteichs im Längental sowie den Bau eines weitläufigen Stollensystems quer durch die Stubaier Alpen. An dem Kühtai zugewandten Talbeginn des Längentals wurden in den vergangenen Wochen massive Erdumwälzungen und zahlreiche Baumentwurzelungen durchgeführt. Auch der Verbindungsstollen zum Finstertalspeicher befindet sich bereits im Bau. Die Maschinen arbeiten sich bergauf zum weitläufigen Talschluss.

Alpine Gewässer und einzigartige Tiroler Landschaft in Gefahr

Das Tal ist geprägt durch einen seltenen und aus naturschutzfachlicher Sicht besonders wertvollen Biotopverbund. Der mäandrierende Längentalbach, Quellfluren, Niedermoore und Alpenrosen-Zwergstrauchheiden prägen die alpine Landschaft. Für die Anlage des Speicherteichs wird das Tal ausgefräst und verschwindet hinter einer 113 Meter hohen Staumauer. Mithilfe eines 25,5 Kilometer langen Stollensystems soll Wasser aus sechs Gletscherbächen in den neuen Speicher im Längental eingeleitet werden. In den Sommermonaten handelt es sich um bis zu 80 % der Abflussmenge. Die betroffenen Fließgewässer entwässern naturgemäß teils in die Ruetz (Fernaubach, Daunkogelfernerbach und Unterbergbach) sowie teils in die Ötztaler Ache (Fischbach, Schranbach und Winnebach).

Der WildeWasserWeg ist bedroht

Der massive Eingriff in den natürlichen Wasserhaushalt der Stubaier Alpen gefährdet den „WildeWasserWeg“ im Stubai. Dem Ötztal als inneralpines Trockental drohen weitreichende Folgen für die Landwirtschaft. Schon jetzt ist durch den Klimawandel in Berglagen des betroffenen Gebiets oft nicht ausreichend Wasser vorhanden, um die Almbewirtschaftung aufrecht zu halten. Die Ableitung großer Wassermengen in den Kraftwerksspeicher würde die Wasserknappheit verschärfen. Absinkende Grundwasserspiegel führen zur Verlandung von Flussauen und anderen Feuchtlebensräumen.

EU-Wasserrahmenrichtlinie sowie Alpenkonvention werden missachtet

Obwohl sowohl die EU-Wasserrahmenrichtlinie als auch die von Österreich ratifizierte Alpenkonvention ein Projekt dieser Art prinzipiell ausschließen, wurde es mit dem Argument des „übergeordneten öffentlichen Interesses“ dennoch auf Schiene gebracht. Da die betroffenen Gebirgsbäche überwiegend im Ruhegebiet Stubaier Alpen verortet sind, waren Eingriffe wie die Ableitung von erheblichen Wassermengen durch das Stollensystem untersagt. Erst eine Abänderung des Tiroler Naturschutzgesetzes, welche eine Ausnahme für Eingriffe im Rahmen der Energiewende einführte, ermöglichte das Voranschreiten der Projektplanung.

Kritik an umweltrechtlicher Verfahrenspraxis in Österreich

„Nicht nur bei der Sellrain-Silz Erweiterung, sondern auch bei vielen anderen UVP-pflichtigen Bauvorhaben, dient das „übergeordnete öffentliche Interesse“ als Totschlagargument im Bewilligungsverfahren. Nicht nachprüfbar und nicht widerlegbar ist diese Argumentationslinie ein praktisches Instrument, um sachliche wie fachlich relevante Bedenken gegen das Projekt abzuweisen“.

Senta Stix (ABA)

Auch die für die Umwelteingriffe im Rahmen des Kraftwerksbaus Kühtai konzipierten Ausgleichsmaßnahmen sind nicht zweckerfüllend. „Im Längental werden sensible Lebensräume, von Gewässern und Mooren bis zu alpinen Heiden, unwiederbringlich zerstört. Auch die umliegende Natur und der menschliche und tierische Lebensraum im gesamten Projektgebiet werden stark geschädigt. Im Gegenzug werden in anderen Bezirken Landwirtschaftsflächen aufgewertet. Dieses Vorgehen entspricht der gängigen Praxis, in der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zu Bauvorhaben Ausgleichsmaßnahmen zu formulieren, welche völlig losgelöst vom eigentlichen Gegenstand des Verfahrens sind. Ein Umstand der seit Jahren von ExpertInnen beklagt wird“, so Senta Stix.

In Anbetracht des Vorgehens für den Ausbau von Sellrain-Silz fordert die ABA deshalb:

  • Einhaltung der EU-Naturschutzrichtlinien, der Wasserrahmenrichtlinie und der Alpenkonvention
  • Reflexion der Auslegung der Begrifflichkeit „übergeordnetes öffentliches Interesse“
  • Stopp der zweckentfremdeten Ausgleichsmaßnahmen in Umweltschutzverfahren
  • Energiewende ohne folgenschwere Eingriffe in bedrohte alpine Freiräume und naturbelassene Ökosysteme

(Aktualisierung am 19.06.2020: Heute hat der VwGH die vom Alpenverein und der Gemeinde Neustift eingebrachten Revisionen gegen den Baubescheid abgewiesen. Das gerichtliche Verfahren ist damit formell angeschlossen, der Text wurde adaptiert.)

Ernst Bromeis hat die größten Seen der Schweiz durchschwommen, den Rhein in voller Länge und ein Stück des Baikals – nicht für den Sport, sondern für eine besondere Botschaft. Die WÖB hat mit dem Extremschwimmer über das Wasser als Menschenrecht gesprochen, über Mut und Grenzerfahrung, trügerische Lösungen und die Chance, mit den eigenen Fähigkeiten durch kleine Aktionen Größeres in Gang zu setzen.

Es ist Rushhour unter dem Blick von Niki de Saints Phalles buntem Engel: Ankommende Züge, Menschen mit Reiseutensilien, viele von ihnen edel mit Zigarren, noblen Anzügen, Wildledertaschen oder sonstigen Attributen, die vom gehobenen Lebensstil Zürichs zeugen. Mittendrin, am vereinbarten Treffpunkt, sticht ein Mann aus dieser Masse hervor – etwas zu sportlich in seiner Aufmachung für die Noblesse ringsum.

Ernst Bromeis grüßt freundlich, vergibt die paar Minuten Unpünktlichkeit und weiß auch gleich wohin. Ob „Mundart“ für das Gespräch gut sei, fragt er über seine Espressotasse hinweg – einen Stock oberhalb der wuselnden Bahnhofshalle, ruhiger, obgleich nicht weniger schick. Er dachte vermutlich erst an seine Heimatsprache Romanisch vom Engadin – bleibt aber dann doch bei einer schweizerischen Standardvariante, als er beginnt vom Rhein zu erzählen. Ihm fühlt er sich am nächsten, weil er alles in sich trägt und irgendwie auch sein Leben widerspiegelt.

(c) Das blaue Wunder – Andrea Badrutt

Zwischen zwei Polen

Als Bromeis zum ersten Mal in den Rhein stieg, um ihn der Länge nach zu durchschwimmen, und damit scheiterte, war ihm nicht bewusst, was diesen Fluss wirklich ausmachte. „Er bewegt sich zwischen zwei Polen oder Kontrapunkten“, erklärt Bromeis, als passionierter Klavierspieler mit den Begriffen der Musik vertraut. „Der Rhein entspringt in den Alpen, in einer sehr archaischen, menschenleeren Landschaft, und mündet schließlich bei Rotterdam – einem der größten Häfen der Welt, Sinnbild für Zivilisation und Globalisierung – in die Nordsee…

…sich ins Wasser zu begeben, einzutauchen und vom Archaischen in die Zivilisation reinzuschwimmen, das fasziniert mich bis heute.”

Diese Faszination mag auch daher rühren, dass sich Bromeis mit seiner Tätigkeit ebenfalls zwischen zwei „Polen“ oder vielmehr Welten bewegt: An Land ist er heute Wasserbotschafter – einer, der bei Vorträgen vor seinem Publikum steht und versucht, es mit Worten zu bewegen, zum Nachdenken zu bringen über dieses lebensnotwendige Element. Im Wasser aber ist er es, der sich bewegt und dazu schweigt. Dort ist er nur Schwimmer: „Ich bin dann in einem fluiden Element, wo ich keinen Stand mehr habe, wo ich nichts greifen kann“, erklärt Bromeis, „im Wasser ist alles anders als an Land, da herrschen andere physikalische Gesetze. Auch der Mensch funktioniert anders im Wasser. Ich finde es sehr bereichernd, dass ich zwischen beiden Welten wählen und leben darf.“

Der Traum von der Tour de France (c) Bromeis

Zwei „Welten“ waren es auch, die Bromeis durch seine Kindheit im Engadin begleiteten. In der Familie stand die Musik im Zentrum, in der Gesellschaft der Sport. Gepflegt hat er beides. Er wollte zunächst Lehrer werden, um beide Fächer unterrichten zu können. Als ihn der Lehrberuf nicht ausfüllte, träumte er von der Tour de France.

„Aber ich war nicht für die Träume als Spitzenathlet in einem gedopten Umfeld gemacht.“

Was nun? Musik oder doch Sport? Ganz klar, der Ernst geht in die Musik, haben die meisten Leute gesagt und sich geirrt – denn „der Ernst“ machte schon damals nie, was nach Meinung anderer geschehen sollte. Bromeis wählte Sport, diesmal aber nicht als Athlet. Er wurde Trainer im Spitzensport und hatte damit Erfolg, blieb aber unruhig. Er merkte, dass er sich sein eigenes „Gefäß“ schaffen musste, um kreativ zu sein. „Ich wollte etwas bewirken – nicht nur Medaillenträume erfüllen, sondern gesellschaftlich etwas gestalten, aber mit den Mitteln, die ich habe, um mich ausdrücken zu können. So ist 2007 das Projekt Das blaue Wunder entstanden“, erzählt er und nimmt noch einen Schluck Kaffee.

Premiere: Bromeis durchschwimmt die großen Seen des Oberengadins (c) Das blaue Wunder – Andrea Badrutt

Grenzschwimmer – 1.230 km von der Quelle bis zur Mündung

Die Idee war plötzlich da: Er würde das Wasser zu seinem Beruf machen und als Schwimmer hinweisen auf jene Ressource, die in unseren Breiten viel zu oft als selbstverständlich und unerschöpflich wahrgenommen wird. Das größte Süßwasser- reservoir der Welt wollte er durchschwimmen, um ein Zeichen zu setzen. „Aber du kannst beim Klettern auch nicht mit dem größten Berg anfangen“, räumt Bromeis ein, „also bin ich vor meiner Haustüre gestartet.“ Er durchschwamm zunächst 200 Bergseen in seinem Heimatkanton Graubünden. Danach folgte der größte See in jedem Schweizer Kanton. Er legte, wenn zeitlich möglich, die Strecken dazwischen mit dem Rennrad zurück. So brachte er das Wasserthema unter die Leute, hielt Vorträge, sprach mit den Medien. Das Echo war enorm und Bromeis schnell klar: Der Aktionsradius muss weiterwachsen.

2012 nimmt er schließlich die 1.230 Kilometer des Rheins in Angriff – von der Quelle in Graubünden bis zur Nordsee. „Wenn du an der Quelle stehst, am Anfang dieses Weges, ist da immer Demut“, erinnert er sich an diesen besonderen Moment, „aber du musst auch mutig sein. Du springst hinein in eine andere Welt, das kann Angst machen – gleichzeitig ist es aber auch Vorfreude.“

Am Rheinfall (c) Das blaue Wunder – Dorothée Meddens

Das erste Mal klappt das Vorhaben tatsächlich nicht. Erst beim zweiten Anlauf 2014 bezwingt Bromeis den Rhein trotz Hochwasser und Kälte. Dabei schwimmt er sechs bis acht Stunden am Tag, mit kleinen Pausen. Am Schluss taten ihm die Schultern weh, der Rücken, so vieles schmerzte. Durchhalten ließ ihn der Glaube an die Wirkung seiner Aktion. „Es geht mir nicht um die Stoppuhr“, betont er. Es geht ihm um die selbst gestellte Aufgabe, im Dienste einer Botschaft an die Gesellschaft:

Wasser ist lebensnotwendig, aber endlich und darum schützenswert.

Schwimmt man so lange Strecken, fällt nämlich auf: Wasser ist nicht gleich Wasser. Es verändert sich. Am Rhein habe es viel Treibgut wegen der Regenfälle gegeben, so Bromeis. Bei seiner Expedition 2015 Richtung Mailand habe er die Veränderung dann sogar schmecken können. Irgendwann war es einfach nicht mehr Lago Maggiore Wasser, es war dann der Fluss Ticino, dann der Kanal: „Durch den Kanal geht’s hinab, es ist Ende Sommer, alles steht. Du siehst, dass Verschiedenes mit dir mitfließt, ob Exkremente oder nicht kannst du nicht sagen, aber vor Mailand spürst du dann schon, dass es nicht einfach Sedimente sind, die da mit dir mitkommen – es ist Dreck.“ Laut Kanalbetreiber sei das Wasser okay gewesen, die Ärzte in Mailand hielten Bromeis für verrückt. Schwimmen, in dieser Brühe?!

© Das blaue Wunder-Christian-Gartmann

Vom Mikroplastik zum Makroproblem

Er selbst fand das bezeichnend für ein generelles Problem, das wir heute mit der Wassergüte haben. „Uns wird suggeriert, dass wir im Wasserschloss leben. Wunderbare Gewässer, touristisches Kapital. Das ist aber nur so, weil man die ganze Makroverunreinigung herausgebracht hat. Es stinkt nicht mehr, ist nicht offensichtlich dreckig“, bemerkt Bromeis. Vom Mikroplastik wisse man zwar, dass es existiere, aber dazu habe man keinen Bezug. „Das ist das, was uns in einer falschen Sicherheit wiegt und uns nicht sehen lässt, was wirklich ist. Aber wie wichtig wäre es, dass wir jetzt den nächsten Schritt machen.“ Man könne immer etwas tun, so Bromeis, überall auf der Welt. Sogar für Orte wie den Nil, den Ganges oder den Amazonas.

„Man bedenke: Die Kläranlage von Basel ist erst 1982 gebaut worden. Bis zu dem Zeitpunkt ist in Basel, in der hochentwickelten Schweiz, der ganze Dreck in den Fluss gekippt worden – heute unvorstellbar. Es gibt also sehr wohl Hoffnung, dass größere und kleinere Flüsse sauberer sein könnten, wenn wir Menschen die richtigen Schlüsse und schließlich auch die Konsequenzen zögen.“

Projekte für technisch ausgeklügelte, teure Abwassersysteme lassen sich heute in der finanziell gut situierten Schweiz allerdings etwas leichter umsetzen als etwa in Indien oder Afrika, vorausgesetzt die Bereitschaft zur Veränderung ist da. Das ist auch Bromeis klar. In manchen Gegenden Afrikas beispielsweise müsse daher ein wesentlich leistbareres Abwassersystem her – mancherorts sei nämlich nicht die Wasserknappheit das Problem, sondern die Kontamination. Aus dem Teufelskreis müsse man rauskommen – Wasser und freier Zugang dazu sei ein Menschenrecht und eine Menschenpflicht.

Kraftwerk Reckingen © Das blaue Wunder – Dorothée Meddens

Differenzierung statt One-Way-Solution

Nicht, dass in der Schweiz alles Gold wäre was glänzt. Das zeige laut dem Wasserbotschafter auch der Energiesektor. Beinahe 60 % der erneuerbaren Energie in der Schweiz werden über Wasserkraft produziert. Seit größere Wasserkraftwerke kaum mehr gebaut werden dürfen, stürze man sich auf Kleinwasserkraft:

„Das versucht man dann als saubere Energie zu verkaufen“, meint Bromeis kopfschüttelnd, „so werden aber auch die letzten Seitenarme der Flüsse zerstört.“

Dabei gebe es Alternativen. Die Lösung wäre mehr Differenzierung, findet Bromeis, „man sollte sich fragen: Was wäre die richtige Energie für den Alpenraum, was für Menschen am Meer? Was für Indien, was für Afrika? Doch der nötige Dialog dazu fehlt.“ Die Politik sei darin kein Vorbild und das mache es schwer. „Stattdessen will sie einfach die ganze Gesellschaft elektrifizieren – über Nacht.“

Es ist ein bisschen wie bei der Rheinexkursion: Neues braucht eben Mut. „Mut, das partikulare Interesse in den Wind zu schießen für die Allgemeinheit. Aufeinander zugehen hat für beide Seiten Vorteile. Wir haben das als Menschheit nur noch nicht gelernt“, ist Bromeis überzeugt, „Momentan leben wir in einer Welt, wo ein Teil ständig versucht zu bewahren, was früher einmal funktioniert hat. Nun wagt man aber nicht den Schritt nach vorn. Die Schneesportindustrie ist das beste Beispiel.

Lej-da-Rosatsch-(c)-Andrea-Badrutt

“Wir versuchen krankhaft an etwas festzuhalten, das 150 Jahre gut lief, aber jetzt mit der Klimakrise kommen wir an den Anschlag.“

Die Industrie und die ökologische Seite müssten endlich einen Kompromiss finden. „Aber jeder denkt nur an sich: Noch fünf Jahre arbeiten, dann bin ich pensioniert, dann hab ich mein Problem gelöst. Die Zusammenarbeit aber wagt keiner.“ Auch das sieht Bromeis als seine Aufgabe: Brückenbauer sein zwischen verschiedenen Zielgruppen. Er setzt sich für die Wasserbildung im Tourismus ein und für das Wassersolidaritätsprojekt Solidarit’eau Suisse oder Blue Peace. 

„Ich halte Vorträge für völlig verschiedene Menschen: Für Spitzensportler, Kirchengemeinden, für die ETH Zürich.  Es liegt bei mir, wie ich mit wem rede. Der Sinn bleibt immer der gleiche. Ich kann jedoch der sein, der den Zugang legt.“

Allerdings gibt es auch skeptische Leute, die auf Distanz gehen und nicht kooperieren wollen – man nehme ihn dann als Eindringling wahr, als Konkurrenten, der in ein fremdes Territorium eindringt und dort alles über den Haufen werfen will. So mancher zweifelt auch an seinen Absichten. „Trotzdem versuche ich zu verbinden, nicht zu teilen“, betont Bromeis, „Polarisierung führt uns weg von der Differenzierung, sie bringt nur Konflikt.“

Am Baikal (c) Das blaue Wunder – Maurice Haas

Schwimmend den ältesten See der Welt bezwingen

Am 11. Juli 2019 bricht Bromeis zu seinem bislang größten Abenteuer auf: zum über 670 km langen, von Gebirgen umsäumten Baikalsee in Sibirien. Mit seinen 1.642 m Tiefe und den rund 25 Millionen Jahren auf dem Buckel, ist der Baikal der tiefste und älteste Süßwassersee und damit das größte Süßwasser-Reservoir der Welt. Die schiere Größe des Sees wird für Bromeis zur unüberwindbaren Herausforderung. „Ist man sehr lange im Wasser unterwegs, ist es viel schwieriger den Fokus zu behalten als an Land“, erklärt der Schwimmer, „an Land ist der Fokus sichtbar. Das Phänomen ist vergleichbar, wenn man beispielsweise die Antarktis quert und ein Whiteout erlebt. Aber an Land gibt’s theoretisch immer einen Horizont, der dir Kraft und Orientierung gibt. Im Wasser allerdings – und der Baikalsee hat in der Regel auch nicht Korallenriffe – siehst du nur ins Schwarze hinab, du verlierst den Fokus.“ Nach 60 km gibt Bromeis auf, gezwungenermaßen.

Warum?

Das interessiert die Zuhörer immer am meisten, verrät er schmunzelnd über seine Kaffeetasse hinweg. Aber auch ihn scheint die Frage immer noch zu beschäftigen. Er denkt kurz nach: „Weil es auf vielerlei Weise eine Überforderung gewesen ist“, sagt er dann langsam „und das hat sich mit den Herzrhythmusstörungen gezeigt. Wenn etwas nicht geht, gibt es immer Gründe. Aber wer scheitert, kann auch gescheiter werden, nur ist das in unserer westlichen Gesellschaft immer negativ konnotiert, oder? Du darfst schon tausend Mal scheitern, aber du musst tausendundeinmal wieder aufstehen. Etwas anderes geht nicht in unseren Breitengraden.“

Zukunftspläne – Von Bächen und Strömen

Und nun? Am Ende ist auch Bromeis ein Kind dieser Gesellschaft. Scheitern gilt nicht, dafür ist er wohl zu sehr Sportler. Die letzte Exkursion hat er abgeschlossen, aber der Baikal an sich lässt ihm keine Ruhe. Bei einem zweiten Anlauf, würde er allerdings im Norden anfangen, weil er im Süden schon war, und weil es ein ganz unglaubliches Gefühl wäre, am Ende nochmal dort vorbeizukommen, wo er schon mal vorbeigeschwommen ist, sagt er. Außerdem…

„bin ich auch an den Baikal gegangen mit dem Wissen, dass ein Wasserbotschafter zu wenig ist für die Welt. Es braucht mehr. Dem Gedanken will ich jetzt weiter nachgehen und sehen, ob ich es schaffe, eine Wasserbot- schafterInnen-Bewegung in Gang zu setzen.“

Was er bislang erreicht hat, möchte er nicht in Zahlen oder Statistiken fassen. Qualität messe sich nicht an Statistiken. So wie er versucht seinen Kindern im Alltag Achtsamkeit beizubringen, so möchte er die Menschen mit seinem Engagement für das Wasser anstecken. Das sei sein „Geschenk“ an die Menschen, sagt er und lässt den Blick durchs mittlerweile halbleere Café Richtung Fenster schweifen, wo sich bereits der Abend ankündigt. „Ich habe nie das Ziel den ganzen Saal zu überzeugen. Es reicht, wenn nur ein paar darunter sind. Ich sehe, dass ich mit Leuten, die für die gleiche Sache kämpfen wie ich, etwas erreiche. Sollte ich nur ein Tropfen sein und der andere ein Tropfen, sind wir zusammen schon zwei und dann noch einer und so weiter. Menschen, die sich auf ihre Art für etwas engagieren, sind vielleicht ein Bach, vorerst noch kein Strom, aber es ist eine Bewegung da und ich bin glücklich ein Teil von dieser Bewegung zu sein, die zum Strom wachsen kann.”

Mehr Infos unter: Das blaue Wunder

Episode

In unserer ersten Sendung widmen wir uns dem Thema „Flüsse“ und sprechen unter anderem über den Weltflusstag, Kraftwerkspläne an der Ötztaler Ache, Fischfabriken am Mekong und den ökologischen Zustand des Inns. Als Studiogast begrüßen wir den Fischökologen Wolfgang Mark vom Institut für Zoologie der Universität Innsbruck. Durch die Sendung führen Gerhard Aigner und Anna Schöpfer.